Berlin

Wir leben alle auf dem Pausenhof 

Die kommunikative Praxis des "virtue signalling" nutzt soziale Ächtung als Mittel zur Herstellung eines moralischen Konsenses.
Junger Mann mit Megaphon verkündet "Moral"
Foto: (219868722) | Ein argumentativ fundierter Austausch ist in einem Gesprächsklima, in dem das "moralisch Richtige", das obrigkeitlich als "gut" bezeichnete, das "Angepasste" korrekt ist, kaum noch möglich.

Mit Blick auf die Lage im Flüchtlingslager Moria schrieb „Welt“-Reporter Tim Röhn unlängst, allein mit Moral lasse diese Krise sich nicht lösen. Wer eine solche These formuliert, der rechnet mit Widerspruch und offenkundig zu Recht: Nicht allein in der Flüchtlingsfrage, sondern auch in anderen aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatten ist eine derartige Dominanz moralischer Argumentationsweisen zu beobachten, dass man den Eindruck haben könnte, die heutigen Deutschen seien ein außerordentlich tugendhaftes Volk; und es ist nicht auszuschließen, dass sie selbst tatsächlich dieser Meinung sind. Auf den zweiten Blick mag man sich jedoch fragen, ob sich in dem besonders in sozialen Netzwerken verbreiteten Hang zum Moralisieren   dem sogenannten „virtue signalling“   nicht vielmehr gerade jener „Verlust der Tugend“ äußert, den der schottische Philosoph Alasdair MacIntyre bereits in den 1980er-Jahren diagnostizierte.  

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MacIntyre erklärt, „in der Welt, in der wir heute leben", sei zwar viel von Moral die Rede  „der moderne Radikale ist vom moralischen Ausdruck seiner Haltung und damit dem daraus folgenden Gebrauch der Rhetorik der Moral ebenso überzeugt, wie jeder Konservative es je gewesen ist"  , aber diese Rhetorik könne nur unzureichend den Umstand verschleiern, dass wir „in Wahrheit nur Scheinbilder der Moral“ besitzen, „ohne Bezug zu jenem Kontext, der ihnen ihre Bedeutung verliehen hat“. Diese „Verwahrlosung des moralischen Denkens und Handelns“ rührt laut MacIntyre wesentlich daher, dass es auf die Kernfrage der Metaethik   woher wissen wir, was gut ist?   seit der Aufklärung keine allgemein als verbindlich anerkannte Antwort mehr gibt.

Als gäbe es einen allgemein verbindlichen ethisch-moralischen Konsens

Vor diesem Hintergrund offenbart sich die kommunikative Praxis des „virtue signalling“ verstanden als emphatisches Bekenntnis zu Haltungen, die auf breite Zustimmung rechnen können, und ebenso offensive Ablehnung wenig zustimmungsfähiger Positionen als ein performativer Akt: Die Deklaration der eigenen „moralischen Korrektheit“ dient zugleich der Aufrechterhaltung der Fiktion, es gäbe einen allgemein verbindlichen ethisch-moralischen Konsens, auf den man sich berufen könnte.  

Dass diese Performativität des „virtue signalling“ zuweilen ausgesprochen lächerliche Züge annimmt etwa wenn formelhafte Gemeinplätze als „klare Worte“ bejubelt werden und Menschen sich mit großem Pathos von Ansichten distanzieren, die ihnen von vornherein niemand unterstellt hätte, bedeutet nicht, dass es denen, die sich so äußern, nicht ernst damit wäre; im Gegenteil. Charakteristisch für den Umgang mit Meinungsverschiedenheiten scheint es unter den herrschenden kommunikativen Bedingungen zu sein, dass die Prämissen für die Bildung von Werturteilen hochgradig emotional besetzt sind; dadurch erscheint eine Infragestellung meiner Meinung immer auch als ein Angriff auf mich als Person.

„Die moralisch ‚richtige‘ Haltung
wird mit sozialer Akzeptanz belohnt“

MacIntyre verweist in diesem Zusammenhang auf die Theorie des „Emotivismus“, derzufolge moralische Urteile „nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen“ seien. Wenn das stimmte, dann wären Werturteile prinzipiell nicht rational begründbar: Man könnte zwar versuchen, sie durch Sachargumente zu stützen, aber tatsächlich wäre das Werturteil nicht aus rationalen Gründen abgeleitet, sondern ginge diesen voraus. Das hieße, die Argumente, die ein Werturteil scheinbar begründen sollen, wären tatsächlich nur vorgeschoben und damit letztlich beliebig und austauschbar. Als Theorie der Bedeutung moralischer Aussagen ist der Emotivismus zwar, wie MacIntyre darlegt, philosophisch dürftig und fragwürdig; als Beschreibung der Art und Weise, wie Menschen in der modernen beziehungsweise postmodernen Kultur Werturteile treffen und vertreten, erscheinen die hier skizzierten Thesen hingegen durchaus zutreffend.  

Vor diesem Hintergrund kann man das „virtue signalling“ als ritualisierte Kommunikation im Rahmen des Versuchs verstehen, den verloren gegangenen moralischen Konsens in einem gruppendynamischen Prozess wieder herzustellen oder zu simulieren: Die moralisch „richtige“ Haltung wird mit sozialer Akzeptanz belohnt, die „falsche“ mit sozialer Ächtung bestraft. Indem Themen wie Klimaschutz, Migrationspolitik, „sexuelle Vielfalt“ und neuerdings auch der Umgang mit dem Coronavirus dieser Form moralischer Urteilsbildung unterworfen werden, erscheint derjenige, der in einer dieser Fragen die „falsche“ Haltung einnimmt, nicht einfach als jemand, der womöglich aufgrund eines anderen Informationsstands, eines anderen Blickwinkels oder anderer Wertmaßstäbe zu einem anderen Urteil gelangt ist, sondern geradewegs als schlechter Mensch: Er muss entweder dumm oder böse sein, idealerweise beides. Da nützt es auch nichts, einen gemäßigten, abwägenden Standpunkt einzunehmen, so sachlich nüchtern dieser auch begründet sein mag: Gerade Differenzierung ist unerwünscht, weil sie eine Bedrohung für die Gewissheit darstellt, auf der richtigen Seite zu stehen. Argumente dienen nicht der Wahrheitsfindung, sondern dazu, Recht zu behalten; wer auf der falschen Seite steht, dessen Argumente haben von vornherein kein Gewicht. Andersdenkende sollen nicht überzeugt, sondern beschämt werden.

Es funktioniert wie eine Form von Mobbing

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So gesehen funktioniert „virtue signalling“ wie eine Form von Mobbing: Ebenso wie man auf dem Schulhof verprügelt werden kann, weil man die falschen Schuhe trägt, kann man ins gesellschaftliche Abseits geraten, weil man auf dem moralisch falschen Standpunkt erwischt wurde. Bezeichnend für diese Dynamik ist auch die Kreativität der moralischen Meinungsführer im Ersinnen von Schimpf- und Spottnamen für ihre Gegner (zum Beispiel „Schwurbler“, „Covidioten“).

Der Schaffung eines möglichst abschreckenden Feindbildes ist zudem die Vorstellung dienlich, zwischen all jenen Ansichten und Positionen, die man emphatisch ablehnt, müsse es einen Zusammenhang geben: Wer die Verhältnismäßigkeit staatlich verordneter Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie anzweifelt, gerät leicht in Verdacht, „Klimaleugner“, Reichsbürger oder Impfgegner (oder all dies zugleich) zu sein; wer sich gegen Abtreibung engagiert, ist nicht nur ein Frauenfeind, sondern per Assoziation auch homo- und transphob; wer Homeschooling als Alternative zur allgemeinen Schulpflicht befürwortet, ist vermutlich Kreationist und glaubt, die Erde sei eine Scheibe; wer Vorbehalte gegen Sexualerziehung im Kindergarten äußert, ist ein Nazi.

„Sanfter Totalitarismus“ entsteht

Hinzu kommt, dass man im Zeitalter der sozialen Medien in denen Kommunikation sehr wesentlich über das „Teilen" von Inhalten funktioniert nicht nur danach beurteilt werden kann, was man sagt, sondern auch danach, worüber man schweigt: welche Beiträge man nicht weiterverbreitet oder wenigstens mit „gefällt mir“ markiert. Wenn es nur einen einfachen Mausklick erfordert, sein Facebook-Profilbild für die Dauer des „Pride Month“ mit einer Regenbogenflagge zu schmücken, macht sich derjenige verdächtig, der das unterlässt.  

Es würde daher zu kurz greifen, die Praxis des „virtue signalling“ lediglich als eine Form von Heuchelei oder „Mimikry“ zu betrachten. Weit bedenklicher ist der soziale Konformitätsdruck, der auf diesem Wege erzeugt wird: ein „sanfter Totalitarismus“, der, auch wenn er auf gruppendynamischem Wege quasi „von unten“ entsteht, nicht unbedingt weniger gefährlich ist als der „harte Totalitarismus“ der Diktaturen des 20. Jahrhunderts.


Kurz gefasst:

Wenn Nutzer von sozialen Netzwerken einander gegenseitig dafür loben, dass sie derselben Meinung sind, dann ist ein Phänomen am Werk, das man „virtue signalling“ nennt: eine Form ritualisierter Kommunikation, die darauf abzielt, politisch-gesellschaftliche Streitfragen nicht durch Argumente, sondern durch die Behauptung moralischer Überlegenheit zu entscheiden und unerwünschte Standpunkte durch soziale Ächtung aus dem Diskurs zu entfernen. 

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