Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Filmrezension

„White Bird“: Es lebe die Menschlichkeit

Der neue Film von Starregisseur Marc Forster kann dank der jungen Hauptdarsteller gerade jüngeren Menschen wichtige Werte vermitteln.
Hellen Mirre und Brye Gheisar in "White Bird", dem neuen Film von Marc Foster.
Foto: IMAGO (www.imago-images.de) | Hellen Mirre und Brye Gheisar in "White Bird", dem neuen Film von Marc Foster.

Kennen Sie den buchstäblich wunderbaren Kino-Hit „Wunder“ (2017) mit Julia Roberts? In dieser Verfilmung eines Bestseller-Romans von Raquel J. Palacio ging es um die fiktive Geschichte eines Jungen namens Auggie (Jacob Tremblay), der in der Schule von einigen seiner Mitschüler gemobbt wurde, weil er ein entstelltes Gesicht hatte und für viele wie ein Freak aussah. Sein größter Widersacher war ein Junge namens Julian (Bryce Gheisar), der wegen seiner fiesen Streiche und Beleidigungen gegenüber Auggie, schließlich von der Schule verwiesen wurde. 

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Der neue Film „White Bird“ vom deutschstämmigen Regisseur Marc Forster („Wenn Träume fliegen lernen“, „James Bond 007: Ein Quantum Trost“) setzt nun da an, wo der Film „Wunder“ aufgehört hat. „Obwohl der Film auch als eigenständiges Werk gut funktioniert, stellt er nunmehr Julian, der erneut von Bryce Gheisar gespielt wird, an den Ausgangspunkt der Handlung und erzählt die „Wunder“-Geschichte aus der Sicht des Bullys weiter. „Mich hat die Geschichte beeindruckt“, verriet Forster im Gespräch mit der „Tagespost“. Denn eben dieser Bully muss an seiner neuen Eliteschule zeigen, dass er aus seinen Fehlern gelernt hat. 

Eine Großmutter erzählt von der Hölle auf Erden

Seine Großmutter Sara (Oscarpreisträgerin Helen Mirren) hört von den Problemen ihres Enkels und fliegt von Paris nach New York, um ihm zu helfen, indem sie ihm zum ersten Mal die Geschichte ihrer eigenen Jugend erzählt. Sie hofft, dass ihre Erfahrungen als Jugendliche ihn zum Nachdenken bringen und Julians Einstellung zu anderen Mitschülern verändern kann. Denn wie wichtig im Leben Güte, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sind, hat sie am eigenen Leib erfahren. Ihre Erzählung ähnelt der wahren Geschichte um Anne Frank und ihr Tagebuch - deren Schicksal diente hier wohl eindeutig als Inspirationsquelle. 

Die Geschichte beginnt 1942 in Frankreich, wo die 13jährige Sara, aus einem wohlhabenden Elternhaus stammend, glücklich und behütet in dem kleinen Ort Aubervilliers aux Bois aufwächst. Das ändert sich aber schlagartig, als die Wehrmacht im Herbst 1942 schließlich auch diesen Teil Frankreichs besetzt und die Nazis Jagd auf Juden machen. Deutsche Soldaten durchsuchen Saras (Ariella Glaser) Schule nach jüdischen Kindern, um sie mit ihren Eltern in Konzentrationslager abzutransportieren. Dank der Hilfe ihres gleichaltrigen Mitschülers Julien (Orlando Schwerdt), der als Arbeiterkind, von vielen in der Schule aufgrund einer Polio bedingten Gehbehinderung gehänselt wird, gelingt Sara die Flucht aus der Schule, so dass sie der Deportation entkommen kann. Ihr großer Schwarm Vincent (Jem Matthews) hingegen entpuppt sich mit der Zeit als Nazi-Kollaborateur. Julien bringt Sara schließlich bei seinen Eltern („Akte X“-Star Gillian Andersen und Jo Stone-Fewings) in Sicherheit und die Familie beschließt das fremde jüdische Mädchen in ihrer Scheune zu verstecken. 

Sehnsucht nach Frieden und Erlösung

Mehr als ein Jahr in der absoluten Isolation von der Außenwelt vergeht. In dieser Zeit entsteht zwischen Sara und Julien eine tiefe Freundschaft, die irgendwann in Liebe mündet. Dabei wird die Scheune zu einem magischen Zufluchtsort für beide. In ihr erschaffen sie sich, allein durch die Macht ihrer grenzenlosen Fantasie, eine eigene Welt. Doch die Gefahr der plötzlichen Entdeckung ihres Verstecks durch die Nazis und französische Kollaborateure schwebt immer greifbar über ihnen. 

Die Geschichte von Sara und Julien ist tragisch und bewegend zugleich. Sie ist eine zeitlose Parabel über den Glauben an die Kraft der Menschlichkeit in dunklen Zeiten und über den Wert von menschlicher Güte. „Denn Güte“, so erklärt Sara ihrem Enkel, „vergisst man nie. Wenn sie dich dein Leben kosten kann, wird sie zu einem Wunder!“. Regisseur Foster über „White Bird“: „Der Film ist eine zu Herzen gehenden Geschichte einer tiefen Freundschaft und letztlich auch eine Geschichte über die Sehnsucht nach Frieden, Hoffnung, Vergebung, Umkehr, Erlösung und Verwandlung.“ Und diese Themen dürften aufgrund ihrer jungen, sympathischen Hauptdarsteller insbesondere auch ein jüngeres Publikum ansprechen: Die Newcomer Ariella Glaser („Marie Curie - Elemente des Lebens“) und Orlando Schwerdt („Kinder des Zorns“) glänzen als die junge Sara und der mutige Julien in ihren jeweiligen Rollen und beeindrucken nachhaltig. 

Die grenzenlose Macht der Fantasie

Leider wirkt ihre Geschichte aber manchmal ein wenig zu konstruiert erzählt. Zudem wäre die klare Botschaft, dass es im Leben auf unsere Menschlichkeit im Umgang miteinander ankommt, authentischer ausgefallen, wenn der Film zum Schluss ohne erhobenen Zeigefinger und einen belehrenden moralischen „Social-Justice-Unterton“ ausgekommen wäre. „White Bird“ ist laut Forster weder ein Prequel noch ein Spin-off zum Film „Wunder“, sondern als Verfilmung des Erfolgsromans „White Bird - Wie ein Vogel“ eher ein Teil von Raquel J. Palacio „Wunder-Universum“, in welchem es Verbindungen zwischen den Protagonisten ihrer Bücher gibt, da sie alle in derselben Welt leben.

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Für die fantasievollen und atmosphärischen Bilder des Films ist erneut Kameramann Matthias Königswieser verantwortlich, mit dem Forster schon bei „Ein Mann namens Otto“ und „Christopher Robin“ zusammengearbeitet hat: Er erschafft eine fantastische Welt, die sich mitunter anfühlt, als würde ein Vermeer-Gemälde zum Leben erweckt. Denn in der Tristesse der Scheune stellen sich Sara und Julien abenteuerliche Reisen zu weit entfernten Orten vor:  Von Paris mit seinen Sehenswürdigkeiten bis zur afrikanischen Steppe, die von wilden Tieren bevölkert wird. Julien „transportiert“ Sara sogar nach New York, indem er einen Projektor auf dem Dach eines Lastwagens montiert und schwarzweiße Zelluloidbilder des Broadways an die Wand der Scheune projiziert. So entstehen bei beiden eine Leichtigkeit und eine Lebensfreude, trotz der dunklen Zeiten, die sie umgeben. 

Der titelgebende „weiße Vogel“ steht für Gott

Königswieser zeigt wunderbar, dass der eskapistischen Macht der Fantasie keine Grenzen gesetzt werden können, weil die Fantasie nicht eingesperrt werden kann und frei ist sich überallhin zu bewegen, unabhängig von Raum und Zeit. Gedreht wurde der Film im Frühjahr 2021 in Prag und Umgebung. Forster erinnert sich: „Ich habe das Drehbuch in der ersten Phase von Covid gelesen. Es hat mich wirklich berührt, weil ich zum ersten Mal gespürt habe, was es bedeutet, einen Ort nicht verlassen zu können und im Lockdown zu sein." Aufgrund dieser Erfahrung, können sich sicherlich viele junge Zuschauer ein wenig in Saras Gefangenschaft einfühlen und welche Auswirkungen das Leben in Einsamkeit, Isolation und Ausgrenzung auf das weitere Leben haben kann.

Obwohl „White Bird“ in erster Linie ein Film über Empathie und Charakterstärke ist, geht es doch auch darum, wie man Resilienz entwickeln und Isolation gut überstehen kann - indem man lernt, Kunst und Fantasie als Bewältigungsstrategien zu nutzen. Dafür steht auch der Titel des Films, denn der weiße Vogel ist für Sara ein eingängiges Symbol für Gottes Gegenwart und seinen Schutz. Neben all dem wirft der Film aber auch die Frage nach Zivilcourage auf: Wären wir auch so mutig wie Julien und seine Eltern gewesen und hätten geholfen - selbst unter eigener Lebensgefahr - oder hätten wir weggeschaut oder wären gar unter die Kollaborateure und Denunzianten gegangen? „Dafür muss man wohl“, so erzählt die Großmutter ihrem Enkel, „wie Martin Luther King, zuerst das Licht in sich selbst finden. Denn Dunkelheit kann niemals die Dunkelheit vertreiben, das kann nur das Licht“. 

Das ist die Lektion, die die Großmutter aus ihrer Lebenserfahrung heraus ihrem Enkel mitgeben will und wohl auch jedem, der sich dieses märchenhaft schöne Jugenddrama anschauen wird. Oder um es mit den Worten des Films zu sagen: „Es lebe die Menschlichkeit!“

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