In Großbritannien ist man schon lange großzügig: Auch Agenten-Thriller-Autoren wie John le Carré, Robert Harris oder Graham Greene werden als literarische Könner eingestuft. In Deutschland, wo Autoren dieses Genres im Auge der seriösen Literaturkritik während der vergangenen Jahrzehnte eher ein Schattendasein fristeten, dürfte diese Herabsetzung dank Andreas Pflüger bald ein Ende haben. Der 66-jährige Thüringer, der im Saarland aufwuchs und im Westberlin der 1980er Jahre vom studierenden Taxifahrer zum gefeierten Drehbuchautor („Tatort“, „Ein Fall für zwei“) aufstieg, schreibt seit Jahren mit großem Erfolg und literarischer Qualität Spionagethriller („Operation Rubikon“).
Sein neuestes, wiederum bei Suhrkamp erschienenes Werk trägt den Titel „Wie Sterben geht“ und ist ein großer Wurf. In vieler Hinsicht. Pflüger führt den Leser in die frühen 1980er Jahre, als der Kalte Krieg zu einem heißen Konflikt zu eskalieren drohte: Nato-Doppelbeschluss, Pershing-II-Raketen, Friedensdemos. Eine junge BND-Agentin namens Nina Winter wird unter falscher Identität nach Moskau geschleust, um von einem hochrangigen Sowjet-General namens Rem Kukura (Deckname „Pilger“) Informationen aus dem Machtzirkel der Sowjets zu erhalten. Sie wird nach intensiver Trainingsvorbereitung seine Führungsoffizierin.
Das deutsch-russische Eis dramaturgisch zum Schmelzen gebracht
Ein gefährlicher Kommunikationskontakt, der von Extratouren durch Moskau geprägt ist, denn dass Nina Winter vom KGB beschattet und bespitzelt wird, versteht sich von selbst. Fragt sich nur, von wem genau und von welcher Einheit gerade. Doch auch an der Deutschen Botschaft in Moskau kann sie nicht allen Mitarbeitern trauen. Und ob bei den Kollegen in Pullach wirklich alle Schotten dicht sind?
Ausgerechnet in dieser Welt des totalen und berechtigten Misstrauens bringt Andreas Pflüger das deutsch-russische Eis dramaturgisch zum Schmelzen, denn „Pilger“ hat einen Sohn namens Leo, dem einmal eine große Boxkarriere offenstand. Wenn nur nicht eine blöde Verletzung dazwischengekommen wäre. Dafür boxt Leo sich sanft in das Herz der belesenen und Prokofiew-affinen Nina Winter, die bei ihrer überragenden Intelligenz und Auffassungsgabe natürlich weiß, dass eine solche Liaison eigentlich ein absolutes „no-go“ ist. Dennoch lässt sie sich auf die Liebe ein, ohne jedoch der Naivität zu verfallen.
Metaphysik als Grundierung
Dafür kreuzen zu viele mysteriöse Hinweise, zu viele geheimnisvolle Gestalten ihren abenteuerlichen Weg, den Pflüger als erfahrener Meister der Spannungserzeugung nicht chronologisch entwickelt, sondern mit geschickt versetzten Vor- und Nachblenden arrangiert. Ein Mosaik der Rätsel, ein Nachhall russischer Klassiker, der auf der berühmten Glienicker Brücke seinen dramatischen Höhepunkt findet. Selbstverständlich pflastern auch jede Menge Leichen den Handlungsbogen, doch Andreas Pflüger gelingt es, jenseits der Klischees und Stereotype des Genres dem Morden und der Bedrohung eine berührende existenzielle Bedeutung zu verleihen. Es wird viel, aber niemals langweilig reflektiert über Unsterblichkeit und Tod („Es gab im Leben Besseres. Doch was Besseres als Leben gab es nicht“), sodass man geradezu von einer metaphysischen Grundierung dieses Thrillers sprechen könnte. Besonders durch die Figur des „Pilgers“, der trotz Top-Ranking im Sowjetsystem seinen religiösen Glauben nicht verloren hat, wird diese Dimension immer wieder elegant in die Dialoge verwoben. Begriffe wie Beten oder Gott tauchen in verschiedenen Variationen häufig auf.
„Rem nickte. ,Was für ein schönes Wort für so ein schweres Leiden. Meine Mutter hatte in der Flurkommode ein Jesusbild versteckt. Mein Vater durfte nicht wissen, dass sie gläubig war. Sie hat mich gelehrt, niemals darüber zu sprechen. Es gab ein fröhliches Mädchen in meiner Schulklasse. Sie hat eine Kette mit einem Kreuz getragen und ist von Kindern so verprügelt worden, dass sie behindert blieb. Die Partei hat für kostenlose Einäscherungen gesorgt. Damit wollten sie die Menschen von kirchlichen Bestattungen abhalten. Aber die Partei heilt keine Seelen. Mein Vater hing dem Wissenschaftlichen Atheismus an: Es gibt keinen Gott und Basta. Denk nicht, dass ich beim KGB der Einzige wäre. Man muss sich rechtfertigen. Es reicht nicht, dazu in den Spiegel zu schauen.‘“ So wird das ganze Treiben der Staaten und Agenten zu einem metaphysischen Panoptikum des menschlichen Treibens, in dem sich niemand seiner Identität und der Identität der anderen, bis hin zu Familienmitgliedern, völlig sicher sein kann. Die Grenzen von Namen, Diensten und Pflichten verwischen und überlappen sich, auch Gut und Böse, Ost und West scheinen am Ende längst nicht mehr so monolithisch getrennt zu sein, wie es die Propagandamaschinen der Militärblöcke damals der Bevölkerung weiszumachen versuchten.
Das Motiv der Auferstehung
Womit der Thriller ein hochaktuelles Thema antippt – denn: Herrscht eine ähnliche Verwirrung nicht auch heute im Zeitalter von Putins Russland? Wie frei und unabhängig agieren moderne westliche Politiker, Journalisten und Aktivisten im Umgang mit der Gefahr aus dem Osten? Wie sehr werden heute politische Abkommen von Geheimdiensten arrangiert oder, wenn‘s sein muss, torpediert? Fragen, auf die das Buch „Wie Sterben geht“ natürlich keine Antwort geben kann, doch der von realen historischen Geschehnissen inspirierte Plot zeigt, dass es sträflich wäre, das Wirken von Geheimdiensten zu ignorieren – sowohl als literarisches Sujet wie auch in der vermeintlichen Realität, wenn man als aufgeklärter Staatsbürger versucht, sich über die politischen Abläufe so gut wie möglich zu informieren.
Längst nicht alles scheint so zu sein, wie es in der medial vermittelten Realität rüberkommt – dies legt Pflüger mit profunder Detailtreue, die bei ihm auf gründlichen Recherchen fußt, unaufdringlich nahe. Wobei es bewundernswert ist, mit welcher Nonchalance der Autor das Moskau der frühen 1980er Jahre in seine Handlung miteinbezieht – so präzise und bildhaft, als wäre er als junger Mann nicht in Westberlin, sondern in Kreml-Nähe Taxi gefahren. „Um Mitternacht hatte sie im Hotel den Weg zum Museum einstudiert. Gleich hinter der Moskwa lag Samoskworetschje, ein großes, altes Viertel mit verwinkelten Gässchen, in denen sie abtauchen konnte. Sie ging bis zur Brückenmitte, sah übern Fluss. Am anderen Ufer quoll Rauch aus dem Schornstein der Schokoladenfabrik Roter Oktober. Unweit davon war ein freistehendes Haus, das Nina erschreckte, ein klotziger Dreißigerjahre-Bau. Er lag wie unter einem düsteren Schatten.“
Zu dieser bildreichen, manchmal vor Sprachwitz schäumenden Prosa passen die subtilen, pointierten Dialoge. „Sie können mir keine Angst machen. Ich war schon tot.“ „Sie werden noch oft sterben, glauben Sie mir.“ Das sich hier andeutende Auferstehungsmotiv spielt tatsächlich keine geringe Rolle in „Wie Sterben geht“. Auch die Schlusspointe ist davon, ohne das Ende vorwegnehmen zu wollen, beeinflusst. Summa summarum: ein unbedingt lesenswertes Buch, das hoffentlich eines Tages verfilmt wird. Wenn es der richtige Regisseur anpackt, vielleicht mit Welterfolgschancen. James Bond ist tot, es lebe Nina Winter.
Andreas Pflüger: Wie Sterben geht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, Hardcover, 448 Seiten, EUR 25,–
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