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Produktives Missverstehen

Der Frankfurter Westend Verlag lud zu einem Diskussionsabend über Vernunft und Glaube: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Moshe Zuckermann rangen um einen gemeinsamen Zugang.
Platons Höhle
Foto: IMAGO / H. Tschanz-Hofmann | Platons Höhlengleichnis kam an diesem Abend im Zuge der Frage, was Vernunft sei, gleich mehrfach zur Sprache.

Fides quaerens intellectum“ – es ist der Glaube, der nach rationaler Einsicht sucht. So lautet der berühmte Ausspruch von Anselm vom Canterbury, mit dem er im elften Jahrhundert nach Christus zugleich einen der Grundpfeiler der Scholastik in den Boden schlug: Glaube und Vernunft sind keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern stehen in einem – wie auch immer gearteten –Ergänzungsverhältnis. Die Einheit von Glauben und Vernunft wurde dann während des verbleibenden Mittelalters auf ganz unterschiedliche Weise ausbuchstabiert, sie selbst aber nicht infrage gestellt.

Heute ist die Situation dagegen eine andere. Nicht nur der Glaube erscheint vielen als unvernünftig, sondern auch die Vernunft – in Diskurse, Perspektiven und Narrative aufgesplittert – nicht wenigen als unglaubwürdig. Das wiederum legt zumindest den Verdacht nahe, dass die Trennung von Vernunft und Glaube vielleicht doch nicht folgenlos bleiben kann und es wieder höchste Zeit wäre, ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Daher ist es äußerst verdienstvoll, dass der Westend Verlag diesem Thema einen hochkarätig besetzten Diskussionsabend in der Frankfurter Villa Metzler gewidmet hat. Als Hauptprotagonisten waren der israelische Soziologe und Historiker Moshe Zuckermann sowie die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz eingeladen, Christian Geyer von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war mit der Moderation betraut worden.

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Es liegt auf der Hand, dass bei der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glaube alles davon abhängt, wie man diese beiden Begriffe jeweils für sich bestimmt. Gerl-Falkovitz hob in ihren einleitenden Ausführungen zunächst darauf ab, „Vernunft“ vom Wort „Vernehmen“ her zu verstehen und damit „pathisch“, genauer: als vernehmend-responsive Wirklichkeitserfassung zu deuten. Die Vernunft, so Gerl-Falkovitz, sei gerade nicht „selbstmächtig“ wie die während der Neuzeit und der Aufklärung stark gemachte Rationalität des Verstandes. Gerade weil die Vernunft ein Vernehmen sei – und nicht etwa ein Hervorbringen –, ermögliche sie einen Zugang zum Transzendenten, das heißt: zu etwas, was die menschliche Selbsttätigkeit im Denken überschreitet.

Ist Gott bloße Projektion?

Im vernünftig-vernehmenden Zugang zur Welt offenbart sich, wie die Trägerin des Premio Ratzinger unter anderem mit Verweis auf Plato und Heidegger nachzeichnete, die Ordnung der Wirklichkeit, ihre Logoshaftigkeit. Damit hatte Gerl-Falkovitz auf kluge Weise die gedankliche Spur gelegt zu jener göttlichen Quelle, aus der sich das doppelte Licht von Vernunft und Glaube speist. Leider wurde diese Spur durch den Moderator, der sich an diesem Abend selbst offenbar weniger als Vermittler, sondern als dritter Gesprächspartner verstand, nicht vertieft, sondern eher verwischt. Auch aufgrund dieser Rolleninterpretation kam es in der Folge zu selten zu einem direkten Gedankenaustausch von Zuckermann und Gerl-Falkovitz. Stattdessen entspannen sich immer neue Gesprächsfäden rund um Vernunft und Glaube: die sogenannte „anthropologische Wende“ in der Theologie des 20. Jahrhunderts, die berühmte Projektionsthese Ludwig Feuerbachs, das Glaubenselement in den modernen Naturwissenschaften, die – besonders von Zuckermann betonte – Kritik an der Religion als institutionalisierter Glaubenspraxis, das Theodizeeproblem und vieles mehr.

Als sich Moderator Geyer zum Fideismus bekannte – der Auffassung, dass der Glaube der Begründung weder fähig noch bedürftig ist –, hielt Gerl-Falkovitz dagegen, dass es sehr wohl „einen Weg vom Unglauben über das Denken zum Glauben“ gebe. Zum Beleg verwies die Philosophin auf einen Brief, den Edmund Husserl 1920 an Roman Ingarden schrieb, in dem er sich überrascht, ja entsetzt über die sich häufenden Konversionen in seiner Hörerschaft äußerte: Er spreche über Logik und Phänomenwahrnehmung und mit keiner Silbe über Gott – und doch bekehrten sich so viele, die bei ihm hörten. Leider wurde dieser von Gerl-Falkovitz geäußerte Gedanke sogleich durch Geyers Verweis auf „Wahrnehmungspsychologie“ im Keim erstickt.

Hilfreich wäre es dagegen gewesen, sich an diesem Punkt an die klassische Unterscheidung zwischen natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie zu erinnern. Denn während sich Erstere als philosophische Disziplin mit Gott beschäftigt, insoweit er – oder zumindest seine Existenz – mit den Mitteln der natürlichen Vernunft erkannt werden kann, geht Letztere von der übernatürlichen Offenbarung Gottes in der Geschichte aus. Der angesprochene lange Weg vom Unglauben über das Denken hin zum Glauben ließe sich dann begreifen als ein Weg vom Unglauben über die natürliche Theologie und Gotteserkenntnis hin zu der rational begründeten Bereitschaft, sich ernsthaft mit der Möglichkeit einer historischen Offenbarung Gottes zu beschäftigen.

Der Sprung in den Glauben

Zuckermann schien ebenfalls fideistische Sympathien zu hegen, was sich etwa an seiner zustimmenden Bezugnahme auf Søren Kierkegaard und dessen Gedankenfigur eines „Sprungs in den Glauben“ zeigte. Andererseits betonte Zuckermann mit Verweis auf den Wissenschaftstheoretiker Karl Popper die Fehlbarkeit und Revisionsbedürftigkeit aller Wissenschaft, die von einem Grundvertrauen – einem Glauben – lebe, sich der Wahrheit durch ihre Verfahren zumindest anzunähern.

Während über den Vernunftbegriff an diesem Abend doch einige Reflexionen angestellt wurden, blieb der Glaubensbegriff vergleichsweise stärker unterbelichtet. Die von Gerl-Falkovitz an einer Stelle erwähnte Differenzierung zwischen Glauben im Sinne des Meinens oder Fürwahrhaltens (Englisch: „belief“) auf der einen Seite und dem durch Vertrauen geprägten Glauben (Englisch: „faith“) auf der anderen Seite, ging in der Folge leider unter.

Auch wenn also die thematische Konzentration nicht so recht glücken wollte, eröffnete sich im Laufe des Abends doch zumindest ein faszinierendes Tableau fast aller großen und wichtigen Problemstellungen, die rund um die titanenhaften Begriffe von Vernunft und Glaube arrangiert sind. Es gäbe also noch einiges zu ordnen, zu besprechen und geistig zu durchdringen. So bleibt zu hoffen, dass die vom Westend-Verleger Markus Karsten am Ende in Aussicht gestellte mögliche Fortsetzung der Diskussion bald Realität wird.

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