Wenn Heide Schinowsky morgens durch das eiserne Tor tritt, geht sie nicht einfach zur Arbeit. Sie betritt ein Gelände, das schwer auf der Seele liegt. Meterhohe Mauern, vergitterte Fenster, Betonflure, die noch immer den Geruch von Angst in sich tragen. „Man kommt auf das Gelände und spürt sofort, was hier passiert ist. Gefängnisse sind nie schön, das ist klar – aber hier ist man gleich mittendrin“, sagt sie.
Seit drei Jahren leitet die Sozialpädagogin, die auch einige Semester evangelische Theologie studierte das Menschenrechtszentrum Cottbus, das auf dem Gelände des berüchtigten Zuchthauses eingerichtet wurde. Sie trägt ihr kurzes Haar praktisch, spricht klar und bestimmt, doch ihre Stimme hat auch etwas Warmes. Man merkt: Hier redet jemand, der den Ernst der Geschichte kennt und trotzdem Hoffnung verkörpern will.
Christlich geprägt und politisch engagiert
Heide Schinowsky wurde am 3. Juli 1975 in Ludwigsfelde geboren. Sie wuchs in einem christlich geprägten Elternhaus auf, in dem Werte wie Verantwortung, Wahrheit und Mut großgeschrieben wurden. Früh lernte sie, was es bedeutet, für den Glauben und für eine eigene Haltung Nachteile in Kauf zu nehmen. „Ich erinnere mich noch an das Plakat in meinem Kinderzimmer in den 80er-Jahren: Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung. Dieser Dreiklang prägt mich bis heute.“ Mit 14 erlebte sie den Mauerfall. Für viele ein Schock, für sie eine Befreiung, denn in der DDR hätte sie vermutlich nicht ihr Abitur ablegen können: „Das war für mich eine glückliche Wendung. Plötzlich war die Welt offen.“
Seit dem Jahr 2000 ist Schinowsky Mitglied von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Von 2014 bis 2019 saß sie für ihre Partei im Brandenburger Landtag. Dort profilierte sie sich in Fragen der Energie- und Strukturpolitik – und immer wieder auch bei der Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Jänschwalde. „Als Christin sehe ich mich in der Pflicht, Unrecht beim Namen zu nennen, die Betroffenen zu würdigen und Wege der Versöhnung zu öffnen.“ Ihr Engagement versteht sie nicht als Beruf, sondern als Berufung.
„Dieses Gefühl muss Antrieb sein“
Das Cottbuser Gefängnis, 1860 errichtet, war zu DDR-Zeiten eine der härtesten Haftanstalten. Hier saßen nicht nur Kriminelle, sondern vor allem politische Gefangene: Oppositionelle, Fluchthelfer, Republikflüchtlinge. 80 Prozent der Insassen waren Menschen, die nur aus der DDR herauswollten. „Das erste halbe Jahr bin ich hier mit einem sehr beklommenen Gefühl unterwegs gewesen“, gesteht Schinowsky. „Aber irgendwann habe ich gemerkt: Dieses Gefühl darf mich nicht lähmen, sondern muss Antrieb sein.“



Bei einem Rundgang zeigt sie auf das Modell des Gefängnisses von 1860. „Hier das Direktorengebäude, dort die Hafthäuser, das Torhaus. Alles von einer Mauer umgeben. Heute gehört nur noch der innere Bereich zur Gedenkstätte.“ Ein Besucher bemerkt ein Gebäude, das wie eine Kapelle aussieht. Schinowsky nickt: „Es gab tatsächlich eine Gefängniskapelle, aber die ist im Krieg zerstört worden.“ Draußen auf dem Hof erzählt sie von den Produktionshallen. „Hier mussten die Häftlinge arbeiten, unter anderem für Pentacon, Kamerateile stanzen. Kameras die dann teilweise in den Export nach Westdeutschland gingen. Einmal die Woche durften sie duschen.“ Die Härte ihres Alltags ist noch immer greifbar.
Täter, Opfer – und die Grauzonen
Manchmal begegnet Schinowsky bei Führungen Menschen, die früher selbst im Gefängnis arbeiteten. „Da sitzt plötzlich jemand und weiß auffallend viel. Und dann stellt sich heraus: Er war damals hier zuständig für Gebäude oder sogar Wärter“. Letztere mussten hier „Erzieher“ genannt werden. „Manche blicken heute kritisch auf ihre Arbeit zurück, andere weniger.“
Besonders heikel: die Rolle der Seelsorger. Es gab katholische und evangelische Geistliche, die offiziell Trost spenden sollten – einer aber berichtete an die Stasi. „Die Häftlinge vertrauten ihm, erzählten von ihrem Leid. Später stellte sich heraus, dass er sie verraten hat. Das ist ein dunkles Kapitel, mit dem sich die Kirche heute intensiv auseinandersetzt“, sagt sie.
Trotz all dieser Brüche steht das Menschenrechtszentrum heute auch für Versöhnung. Es ist Teil der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry. „Das Kreuz wurde aus den Nägeln der zerstörten Kathedrale von Coventry geschmiedet. Es steht für die Entscheidung: Wir wollen nicht Rache, sondern Versöhnung.“
Vor kurzem wurde dieses Engagement in Cottbus mit der Paul-Gerhardt-Medaille ausgezeichnet. „Das war eine große Bestätigung für unsere Arbeit. Und für mich persönlich ist es eine Ermutigung, im Geist des Evangeliums weiterzumachen.“ Derzeit zeigt eine Sonderausstellung die Verfolgung der Zeugen Jehovas. Sie lehnten den Wehrdienst ab, erkannten nur Gottes Gesetz an – und wurden deshalb sowohl im Nationalsozialismus als auch in der DDR verfolgt. „Auch hier in Cottbus saßen sie ein. Ihre Geschichten zeigen, wie Glaubensfreiheit unter totalitären Regimen unterdrückt wurde,“ erklärt Schinowsky. Das betraf auch katholische und evangelische Christen.
Ein lebendiger Lernort
Jährlich besuchen rund 5.000 Menschen – die Hälfte davon Schüler – die ehemalige Haftanstalt, die bis 2002 Gefängnis war. Sie sehen die Gitter, die engen Zellen, hören die Berichte der Zeitzeugen. Und sie erleben, dass Geschichte nicht abstrakt ist. „Wir merken aber auch hier, dass der Ton rauer wird. Manche Schüler bringen Hakenkreuze in Zeichnungen ein. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir hier über Werte und Verantwortung sprechen.“
Auch Kunstprojekte sind Teil der Arbeit. Ehemalige Häftlinge bringen sich mit Lichtinstallationen oder Ausstellungen ein. Liederabende, Theater, sogar eine Oper und Symposien tragen dazu bei, dass der Ort nicht nur die Vergangenheit konserviert, sondern Gegenwart gestaltet. Der Historiker und ehemalige Direktor des Cottbuser Stadtmuseums Steffen Krestin engagiert sich heute im Verein „Aufarbeitung Cottbus“. Er betont: „Das Menschenrechtszentrum ist prädestiniert, um die Biografien der Opfer sichtbar zu machen. Hier zeigt sich, wie Diktatur konkret in Menschenleben eingriff.“
Für die politischen Häftlinge war der Mauerfall mehr als ein historisches Datum: Viele der ehemaligen Gefangenen engagierten sich später selbst, gründeten den Verein, der die Gedenkstätte trägt. Sie wollten zum einen, dass der Ort ihres Leids nicht vergessen wird. Heute erzählen sie ihre Geschichten Schülern, Journalisten, Forschern – und halten die Erinnerung wach. Geschaffen haben sie hiermit zugleich einen Ort, von dem aus Betroffene von Menschenrechtsverletzungen auch heute aktiv unterstützt werden.
Zukunft aus christlicher Hoffnung
Schinowsky sieht ihre Aufgabe im Gestalten. „Unsere Aufgabe ist es, Erinnerung wachzuhalten, Unrecht zu benennen, Betroffene zu unterstützen – und zugleich für unser aller Verantwortung für Demokratie und und Gerechtigkeit zu sensibilisieren.“
Wenn sie am Abend wieder durch das schwere Tor geht, bleibt nicht selten die Last des Ortes bei ihr. Aber auch die Gewissheit, hier am richtigen Ort zu sein. „Unsere Arbeit ist auch ein Dienst für die ganze Gesellschaft – aus der Vergangenheit heraus für die Gegenwart und für die Zukunft.“
Der Autor ist Experte für Themen in den neuen Ländern und schreibt über Kultur und Geschichte.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.









