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Das taube Amerika

Seit Jahrzehnten liefern sich Lebensrechtler und Abtreibungsbefürworter in den USA einen heftigen Kulturkampf. Mit den von mehreren Bundesstaaten verabschiedeten „Herzschlag-Gesetzen“ tritt er in eine neue Phase. Doch die Abtreibungslobby schlägt zurück. Von Stefan Rehder
USA: Die Abtreibungslobby schlägt zurück.
Foto: dpa

Die USA hören schlecht. Lebensrechtler wollen das ändern und finden Gehör. Etwa bei Brian Kemp. Vergangene Woche setzte der republikanische Gouverneur des US-Bundesstaates Georgia seine Unterschrift unter ein Gesetz, das Ärzten verbietet, vorgeburtliche Kindstötungen durchzuführen, wenn der Herzschlag des Kindes festgestellt werden kann. Medizinisch möglich ist das in der sechsten Woche – einem Zeitpunkt, zu dem manche Frauen gar nicht wissen, dass sie schwanger sind.

Ende März hatte das Parlament in Atlanta mit 92 zu 78 Stimmen den „Living Infants Fairness und Equality (LIFE) Act“ verabschiedet. Er soll Anfang 2020 in Kraft treten. Bis dahin haben die Ärzte des rund zehn Millionen Einwohner zählenden, im Südosten der USA gelegenen Bundesstaates Zeit, sich mit den neuen gesetzlichen Vorschriften vertraut zu machen. „Wir setzen uns für die Unschuldigen ein und sprechen für diejenigen, die nicht für sich selbst sprechen können“, verkündete Kemp via „Twitter“ und fügte hinzu: „Die mutige Aktion des Gesetzgebers“ bestätige „unsere Prioritäten“ und zeige „was für ein Staat wir sind“.

In den Medien wird der „LIFE-Act“ meist als „Heartbeat Bill“, als „Herzschlag-Gesetz“ bezeichnet. Der Grund: Mehrere US-Bundesstaaten haben in diesem und im vergangenen Jahren ähnliche Gesetze erlassen oder in die Parlamente eingebracht. So unterzeichnete etwa der republikanische Gouverneur des Bundesstaates Mississippi, Phil Bryant, am 21. März ein Gesetz, das Ärzten unter Androhung des Entzugs ihrer Approbation verbietet, ein ungeborenes Kind abzutreiben, sobald dessen Herzschlag vernehmbar ist. Ausnahmen sieht das Gesetz, das im Juli in Kraft treten soll, nur vor, wenn das Leben der Mutter durch Fortsetzung der Schwangerschaft gefährdet wird. Keine Ausnahmen macht das Gesetz dagegen bei Inzest oder Vergewaltigung.

„Kein anderes Gesetz erlaubt die Tötung eines unschuldigen Kindes wegen eines Verbrechens, das sein Vater begangen hat“, erläutert Janet Porter den dahinterstehenden Gedanken. Die Lebensrechtlerin ist Präsidentin von „Faith2Action“, einer Organisation mit Sitz im US-Bundesstaat Ohio, die sich für Familien und das Lebensrecht ungeborener Kinder einsetzt. Die 56-Jährige bezeichnet sich selbst als die „Großmutter der Heartbeat-Bewegung“. 2011 spielte Porter in Ohios Hauptstadt Columbus bei einer Anhörung des Parlaments den Teilnehmern eine Ultraschalltonaufnahme vor und brachte US-Politikern so erstmals den Herzschlag eines ungeborenen Kindes zu Gehör.

Bereits im Dezember 2016 hatten beide Kammern des Parlaments in Columbus eine „Heartbeat-Bill“ verabschiedet. Doch der damalige Gouverneur John Kasich, der sich bei den Vorwahlen der amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2016 als letzter verbliebener Gegenkandidat von Donald Trump aus dem Rennen um den republikanischen Präsidentschaftskandidaten zurückgezogen hatte, bezeichnete das Gesetz als „verfassungswidrig“ und legte unter Verweis auf die zu erwartenden kostspieligen gerichtlichen Auseinandersetzungen sein Veto ein. Repräsentantenhaus und Senat des im Mittleren Westen der USA gelegenen Bundesstaates ließen jedoch nicht locker. Und so konnte am 11. April der neue republikanische Gouverneur Mike DeWine ebenfalls ein Gesetz unterzeichnen, das Abtreibungen verbietet, sobald der Herzschlag des ungeborenen Kindes festgestellt wurde.

Frank Pavone, National-Direktor der bundesweiten Pro-Life-Organisation „Priests for Life“ mit Hauptsitz in New York, gratulierte den Aktivisten und dem Gesetzgeber: „Die jüngsten Kinder zu schützen, ist die Richtung, in die unser Land gehen muss; es ist Teil der Größe Amerikas. Ich bin dankbar, dass Gouverneur DeWine die Gesetzesvorlage unterschrieben hat, für die so viele in Ohio hart gearbeitet haben.“ In seinem Glückwunschschreiben ging Pavone auch auf die angekündigten Klagen gegen das Gesetz ein: „Es ist meine große Hoffnung, dass die Gerichte, wenn sie vor der Frage der Verfassungsmäßigkeit stehen, erkennen werden, dass unsere Rechtsprechung unsere Wissenschaft einholen muss. Abtreibung stoppt ein schlagendes Herz. Der einzige Weg, diese Handlung richtig zu beurteilen, besteht darin, sie zu stoppen.“

Ein Ziel, das viele Lebensrechtler mit den „Heartbeat-Bills“ tatsächlich verfolgen. Sie sollen den Verfassungsgerichtshof der USA zwingen, sich ein weiteres Mal mit der Abtreibungsgesetzgebung zu befassen. Am 22. Januar 1973 entschied der Supreme Court mit sieben zu zwei Stimmen in seinem Urteil „Roe versus Wade“, die Durchführung vorgeburtlicher Kindstötungen verstoße nicht gegen die US-Verfassung. Bis dahin waren Abtreibungen in den allermeisten Bundesstaaten verboten. So auch in Texas.

Dagegen ging 1970 die junge Anwältin Sarah Weddington vor. Nachdem sie zunächst gegen Henry Wade, den für die Durchsetzung des Gesetzes zuständigen Staatsanwalt, Klage erhoben hatte, landete der Fall vor einem Bezirksgericht in Dallas. Weddington hatte drei Jahre zuvor selbst eine illegale Abtreibung in Mexiko vornehmen lassen, um ihr Jurastudium wie geplant zu beenden. Texas erlaubte vorgeburtliche Kindstötungen damals nur in Fällen, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdete. Und weil der Staat gegen das Urteil des Bezirksgerichts, das die texanischen Abtreibungsgesetze für verfassungswidrig erklärte, Berufung einlegte, landete die Klage schließlich vor dem Supreme Court.

Der entschied unter Berufung auf den 14. Zusatzantrag der Verfassung, dass eine übermäßig restriktive staatliche Regelung der Abtreibung verfassungswidrig sei. In der vom Höchstrichter Harry A. Blackmun verfassten Mehrheitsmeinung kam das Gericht zu der Ansicht, viele der texanischen Statuten verletzten das verfassungsmäßige Persönlichkeitsrecht von Schwangeren. Dabei wird häufig übersehen, dass die Richter die Auffassung der von Weddington vertretenen Klägerin Jane Roe verwarfen. „Jane Roe“ war ein Pseudonym, das die Identität der Texanerin Norma McCorvey schützen sollte, einer damals mittellosen schwangeren Frau, die später zum christlichen Glauben fand und auf die Seite der Abtreibungsgegner wechselte. Der Supreme Court widersprach nämlich der von Weddington vorgetragenen Behauptung, Roe besitze ein absolutes Recht, jederzeit ihre Schwangerschaft zu beenden. Vielmehr suchte er das Recht von Frauen auf Privatsphäre mit dem Interesse von Staaten, Abtreibung zu regulieren, in Einklang zu bringen und entschied, dass das „zwingende Interesse“ eines Staates an der Gesundheit der schwangeren Frau es ihm auch ermögliche, Abtreibungen „etwa am Ende des ersten Trimesters“ der Schwangerschaft zu regulieren. Begründet wurde die Wahl des Zeitpunktes damit, dass das ungeborene Kind erst zu diesem Zeitpunkt die „Fähigkeit zu einem sinnvollen Leben außerhalb des Mutterleibs“ besitze.

Porter hält es daher für möglich, dass der Supreme Court auch zu einem anderen Ergebnis als in „Roe versus Wade“ kommen könne. Nicht nur, weil der Gerichtshof mit den von US-Präsident Donald Trump berufenen Richtern Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh insgesamt konservativer geworden sei. Sondern auch, weil der „Herzschlag ein sicherer und konsistenterer Indikator für das Leben ungeborener Kinder sei, als der, den der Oberste Gerichtshof derzeit verwendet: die Lebensfähigkeit“. In „Roe versus Wade“ habe der Supreme Court betont, die Bundesstaaten könnten das Leben ungeborener Menschen schützen, wenn die Wahrscheinlichkeit bestehe, dass sie die Geburt überlebten. „Aber der Indikator, den sie jetzt verwenden, ist ein schlechter.“ Der Herzschlag sei der genaueste Indikator dafür, ob ein Kind im Mutterleib überlebe, um lebend geboren zu werden. „Das bedeutet, dass das Gericht den Punkt des zulässigen Rechtsschutzes einfach an einen Ort verschieben kann, der eher seiner Absicht entspricht – den Herzschlag“, meint Porter.

Ein schöner Gedanke. Ob er mehr ist, als „nur“ ein frommer Wunsch, muss sich noch zeigen. Denn die Abtreibungslobby in den USA schaut den gesetzgeberischen Aktivitäten der Bundesstaaten, die ihre Gesetze verschärfen, nicht tatenlos zu. Ausgerechnet am 22. Januar dieses Jahres, dem Jahrestag der Entscheidung „Roe versus Wade“, verabschiedete der Senat des Bundesstaates New York mit 38 zu 24 Stimmen den „Reproductive Health Act“. Mit dem Gesetz strich der Ostküstenstaat Abtreibungen nicht nur erstmals ganz aus dem Strafgesetzbuch, sondern ermöglichte auch Spätabtreibungen bis kurz vor der Geburt, wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet oder das Kind nicht lebensfähig ist. Ausdrücklich erlaubt es Ärzten und anderen Fachkräften zudem, Abtreibungen bis zur 24. Schwangerschaftswoche durchzuführen – und zwar nur, weil die Frau das will. Damit erfüllt es Forderungen, wie sie von „Planned Parenthood“ und anderen erhoben werden. In einer Erklärung, die auf der Website des Ostküstenstaates veröffentlicht wurde, bezeichnete Gouverneur Andrew Cuomo das Gesetz als „historischen Sieg für die New Yorker Bürger“. Seit 2006 hatte eine republikanische Mehrheit im Parlament die Verabschiedung der Vorlage verhindert. Nachdem bei den Zwischenwahlen im November des vergangenen Jahres die Demokraten jedoch in beiden Kammern des Parlaments die Mehrheit errungen hatten, setzte Cuomo das Gesetzgebungsverfahren wieder in Gang.

New Yorks Erzbischof, Timothy Kardinal Dolan, erklärte, Bischöfe sollten zwar keine Politiker oder „Kulturkämpfer“ sein. Das neue Gesetz sei jedoch ein „Affront gegen die Rechte der Schutzlosesten“. Dolan erinnerte daran, dass alle Menschen die gleichen Rechte hätten: „Einwanderer, Arme, Schwangere und ihre Babys.“ Der Bischof von New Yorks Hauptstadt Albany, Edward B. Scharfenberger, schrieb gar in einem Offenen Brief an Cuomo: „Obwohl Sie sich in Ihrer jüngsten Rede zur Lage des Staates auf Ihren katholischen Glauben bezogen und äußerten, dass wir ,Papst Franziskus zur Seite stehen‘ sollten, widerspricht ihre Befürwortung extrem liberaler Abtreibungsgesetze in jeder Hinsicht der Lehre unseres Papstes und der Kirche.“ Was den Katholiken Cumo, dessen Herz zwar für Flüchtlinge, nicht jedoch auch für ungeborene Kinder schlägt, nicht hinderte, das Gesetz zu unterzeichnen. Dabei erklärt er: „Heute machen wir einen riesigen Schritt vorwärts im harten Kampf dafür, das Recht der Frau zu sichern, ihre eigenen Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen, die Möglichkeit, eine Schwangerschaft abzubrechen mit eingeschlossen. Mit dem Unterschreiben dieses Gesetzes senden wir eine klare Botschaft, dass, was auch immer in Washington passiert, Frauen in New York immer das grundlegende Recht haben werden, über ihren eigenen Körper zu bestimmen.“ Der Kulturkampf geht also weiter. Und zwar heftiger als je zuvor.

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