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Jean-Marc Sauvé: "Zölibat an sich ist kein Risikofaktor"

Jean-Marc Sauvé , Leiter der französischen Studie über Missbrauch in Kirchenkreisen, unterstreicht, dass es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen priesterlicher Ehelosigkeit und sexuellem Missbrauch gibt. 
Kommission - Bericht zu Kindesmissbrauch in katholischer Kirche
Foto: Thomas Coex (AFP Pool/AP) | Kommissionspräsident Jean-Marc Sauvé spricht im Interview mit der Tagespost auch über die Ursachen von sexuellem Missbrauch.

Herr Sauvé , welche tiefen geistlichen Ursachen hat sexueller Missbrauch in der Kirche?

Sexueller Missbrauch Minderjähriger bedeutet unabhängig vom Milieu immer auch den Missbrauch eines bestehenden Autoritäts- und Erziehungsverhältnisses. Jedes soziale Milieu hat außerdem seine eigenen Schwachstellen und Risiken. Im Sport ist es der Zugang des Erwachsenen zum Körper des Minderjährigen, in der Schule der Zugang zum Intellekt, in der Kirche der Zugang zum Gewissen. Vielmehr als der Zölibat erklärt dieser Zugang zum Gewissen, das heißt zum intimsten Teil des Menschen, den sexuellen Missbrauch in der Kirche.

In seinem Brief an das Volk Gottes von 2018 hat Papst Franziskus den Zusammenhang zwischen Amts- und Gewissensmissbrauch, geistlichem und sexuellem Missbrauch sehr gut beschrieben. Missbrauch in der Kirche ist besonders schockierend, weil er eine schwerwiegende Verletzung des göttlichen Gesetzes, der Botschaft des Evangeliums und der Stellung der Kinder im Evangelium darstellt.

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Gerade deshalb ist es so schwer nachzuvollziehen, warum die Kirche so lange den Ernst dieses Phänomens nicht erkannt hat.

Die Kirche hat lange dem Schutz der Institution Vorrang vor dem Schutz der Opfer eingeräumt. Hier liegt sicherlich ihre Hauptverantwortung und genau darin liegt der systemische Fehler und die systemische Verantwortung: Abgesehen von den persönlichen Fehlern ihrer Mitglieder war die Kirche nicht in der Lage, die Warnsignale zu sehen oder wollte sie nicht sehen. Lange hat sie es unterlassen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Systemische Verantwortung bedeutet nicht, dass die Kirche ein kriminelles Unternehmen ist oder war, sondern dass sie sich nachlässig verhalten hat und sich selbst schützen wollte

Während die MHG-Studie im Zölibat einen Risikofaktor für sexuellen Missbrauch sieht, spricht der Sauvé -Bericht von einer Überbewertung des Zölibats. Haben Sie einen Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch ermittelt?

Die Position unseres Berichts weicht von derjenigen der MHG-Studie ab. Wir stellen in unserem Bericht klar, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen priesterlichem Zölibat und sexuellem Missbrauch gibt. Möglicherweise gab es jedoch eine übertriebene Vorstellung vom Zölibat, die den Einfluss von klerikalen Tätern auf ihre Opfer begünstigt und verstärkt haben kann.

Die Theologie des Priesters als
"Alter Christus" wurde von Tätern pervertiert.

Wenn ich Sie also richtig verstehe, ist das Problem nicht der Zölibat, sondern der Klerikalismus?

Ja, genau. Der Zölibat selbst ist keine Ursache für Missbrauch. In einigen Fällen könnte er aber zu einem sakralisierten Bild des Priesters beigetragen und damit die Autorität der Priester gegenüber den Betroffenen gestärkt haben.
Solche Verzerrungen und Perversionen der kirchlichen Lehre haben den sexuellen Missbrauch gefördert. Die Theologie des Priesters als "Alter Christus" wurde von Tätern pervertiert. Genau das beschreibt der Papst 2018 in seinem Brief an das Volk Gottes. Hieran muss die katholische Kirche vorrangig arbeiten. Dies schließt auch die Einstellung und Ausbildung von Priestern mit ein.

Wenn es keinen Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch gibt, warum fordert der Bericht die Kirche dann auf, über die Priesterweihe für verheiratete Männer nachzudenken?

Auch wenn der Zölibat an sich kein Risikofaktor ist, ist unsere Überlegung, dass, wenn es verheiratete Priester gäbe, dadurch eine Überhöhung des Priesters bekämpft werden kann.

Die MHG-Studie fordert eine Modernisierung der katholischen Sexualmoral. Wie behandelt der Sauvé -Bericht diese Thematik?

In Hinblick auf die kirchliche Sexualmoral fordern wir keine "Tabula rasa", sondern ihre Ergänzung und Bereicherung. Wir stellen fest, dass es keine Rangordnung innerhalb der Verstöße gegen die Sexualmoral gibt. Alles, was unter dem Gesichtspunkt der kirchlichen Sexualmoral unzulässig ist, wird als schwerwiegend eingestuft. Sünden gegen das sechste Gebot werden auf beinahe dieselbe Stufe gestellt, wie zum Beispiel einvernehmliche, außereheliche sexuelle Beziehungen einerseits und Vergewaltigung andererseits. Die Sexualmoral nimmt dabei mehr den Sünder in den Blick als das mögliche Opfer. Sexuelle Übergriffe sind aber Angriffe auf die physische und psychische Integrität der Person, Angriffe auf das Leben anderer. Sie sind Werke des Todes und damit Verstöße gegen das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten.

Dennoch ist der Anteil der homosexuell orientierten Personen
unter den Tätern hoch, viel höher als in der Allgemeinbevölkerung
und auch im Klerus selbst.

Die Opfer von Gewalt durch Kleriker sind zu 80 Prozent männlich, während sie in der Gesamtgesellschaft zu 60 Prozent weiblich sind. Die MHG-Studie kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Der Bericht erklärt dies mit dem "Opportunitätseffekt", das heißt, den über lange Zeit privilegierten Zugang von Priestern zu Jungen, etwa über die Messdiener oder in katholischen, nicht koedukativen Schulen. Es wäre jedoch naiv zu glauben, dies sei die einzige Erklärung. Es gibt weitere Faktoren, die das Phänomen erklären könnten, darunter namentlich die sexuelle Orientierung. Wir legen uns jedoch in der Frage der Homosexualität nicht fest, da das sehr heikel ist. Genauso gut könnte man sagen, dass seine heterosexuelle Orientierung erklärt, warum ein Priester ein Mädchen angreift. Wir können keinen kausalen Zusammenhang zwischen sexueller Orientierung und sexuellen Übergriffen nachweisen. Dennoch ist der Anteil der homosexuell orientierten Personen unter den Tätern hoch, viel höher als in der Allgemeinbevölkerung und auch im Klerus selbst.

Ihre Studie zeigt, dass ein Drittel des Missbrauchs in der Kirche von Laien begangen wird. Erscheint die Lösung "mehr Laien in der Leitung der Kirche" angesichts dieser Erkenntnis nicht stark vereinfachend?

Die Einbeziehung der von Laien begangenen Missbräuche war in erster Linie eine Antwort auf die Frage des Zölibats. Auch Laien, die in der Regel verheiratet sind, begehen offensichtlich Übergriffe. Durch die Ausweitung unserer Untersuchungen auf die Laien ist es offensichtlich, dass die Ersetzung der Priester durch Laien keine wirklich wirksame Antwort ist. Außerdem gibt es, wie wir sehr gut wissen, sexuelle Übergriffe in allen sozialen Bereichen, in Schulen, im Sport, in Familien, in denen es keine Verpflichtung zum Zölibat gibt.

Wir empfehlen, dass die Leitung der Kirche neben der vertikalen, hierarchischen Dimension auch die synodale, horizontale Dimension besser zum Ausdruck bringt. Sexueller Missbrauch würde besser wahrgenommen werden, wenn es innerhalb der katholischen Kirche mehr Verschiedenheit und Beratung gäbe. Dies betrifft vor allem die Diözesankirche, denn ein Bischof, der sich allein mit seinem Generalvikar um diese Probleme kümmert, ist zu isoliert.

Die Empfehlungen zur kirchlichen Leitungsstruktur beziehen sich also nicht auf den Missbrauch selbst, sondern auf seine bessere Bewältigung?

So ist es. Wenn Männer und Frauen in den Entscheidungsgremien der Kirche mitwirken, besteht eine bessere Chance auf sachkundige und gerechte Entscheidungen. In der Kirche gibt es die Weihegewalt und die Leitungsvollmacht. Die Weihegewalt liegt bei den geweihten Amtsträgern, also den Priestern und Bischöfen, die die Sakramente feiern. Wir wollen weder die Organisation der katholischen Kirche umwerfen, noch die Weihegewalt in Frage stellen. Aber wir sagen, dass die vollkommene Deckungsgleichheit von Weihegewalt und Leitungsvollmacht vermieden werden muss, und dass Laien in Entscheidungsgremien an der Leitung der Kirche mitwirken müssen.

Die öffentliche Aufmerksamkeit hat sich sehr schnell auf die eine der 45 Empfehlungen konzentriert, die das Beichtgeheimnis betrifft. Warum diese Empfehlung, wenn klar ist, dass die Aufhebung des Beichtgeheimnisses faktisch zum Verschwinden des Sakraments führen würde?

Zunächst einmal bezieht sich die Empfehlung nicht auf Täter, sondern auf Kinder, die in der Beichte davon berichten, dass sie sexuell missbraucht wurden und dann erfahren müssen, dass nichts geschieht. Solche Dinge wurden uns bei einigen der Anhörungen im Rahmen unserer Arbeit berichtet. In unserer Kommission waren sowohl Menschen aller Konfessionen als auch Atheisten und Agnostiker vertreten. Niemand von uns will das Beichtgeheimnis aus Prinzip in Frage stellen. Man muss auch nicht unbedingt das Beichtgeheimnis verraten, um Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Es geht nicht darum, systematisch bei der Justiz oder der Polizei Sünden anzuzeigen, die man in der Beichte gehört hat.

Sexuelle Übergriffe auf Minderjährige gehören sowohl für die Kirche als auch für den Staat zu den schwersten Straftaten. Mit ihrer 2000 Jahre alten Erfahrung muss und wird die Kirche daher hier unweigerlich Lösungen finden.


Hintergrund:

Am 5. Oktober hat in Frankreich die Unabhängige Kommission zu sexuellem Missbrauch in der Kirche (CIASE) ihren Bericht veröffentlicht. Eine Hochrechnung auf Basis einer Umfrage unter 28000 erwachsenen Franzosen im Auftrag der CIASE schätzt, dass 216000 heute erwachsene Franzosen in ihrer Kindheit Missbrauch durch einen Kleriker erlitten haben. Die Zahl wächst auf 330000 Betroffene, wenn Missbrauch durch Laien im kirchlichen Rahmen hinzugezählt wird.
Die Hochrechnung ermittelt eine Zahl von insgesamt etwa 5,5 Millionen, heute erwachsenen Betroffenen sexuellen Missbrauchs in der französischen Gesellschaft. Sechs Prozent davon entfallen auf sexuellen Missbrauch im kirchlichen Rahmen, beziehungsweise vier Prozent auf sexuellen Missbrauch durch Kleriker. Gesamtgesellschaftlich steigt das Phänomen des sexuellen Missbrauchs über den gesamten Untersuchungszeitraum an, wohingegen es im kirchlichen Rahmen kontinuierlich absinkt, absolut wie relativ. Fast die Hälfte aller Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kirche fällt in den Zeitraum 1950-1970. Nur 8,7 Prozent des Missbrauchs im Rahmen der Kirche fällt in die Jahre 2000-2020.


Die Studie umfasst 45 praktische Empfehlungen, die sich vornehmlich mit Maßnahmen der Prävention und Intervention sowie dem Kirchenrecht, aber auch mit kirchlichen Spezifika wie Leitungsstrukturen, Sexualmoral, Beichtgeheimnis und dem Zölibat beschäftigen.
Geleitet wurden die Arbeiten der CIASE von Jean-Marc Sauvé , Jahrgang 1949, einem ehemaligen Richter und Vizepräsidenten des obersten französischen Verwaltungsgerichts. Im Gespräch mit der "Tagespost" äußert sich Sauvé zu den Ursachen sexuellen Missbrauchs in der Kirche und zu den Empfehlungen der Studie.

 

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