Straßburg

"Jetzt ist nicht verstecken angebracht, sondern Demut"

Olivier de Germay ist seit Dezember 2020 Erzbischof von Lyon. Der vormalige   Offizier der Fallschirmjäger der französischen Armee entschied sich mit 30 Jahren, dem Ruf zum Priestertum zu folgen. Als Oberhirte des ältesten französischen Bistums hat er die Stellung des Primas von Frankreich inne. Ein Gespräch über die Chancen und Krise der Kirche in Frankreich.
Olivier de Germay
Foto: Wikicommons | Olivier de Germay ist seit Dezember 2020 Erzbischof von Lyon. Der vormalige Offizier der Fallschirmjäger der französischen Armee entschied sich mit 30 Jahren, dem Ruf zum Priestertum zu folgen.

Exzellenz, Sie haben den Missionskongress nach Lyon geholt. Was erhoffen Sie sich davon für Ihre Diözese?

Ich freue mich sehr über Initiativen wie den Missionskongress, da er Ausdruck eines missionarischen Aufbruchs ist. Wir müssen Neues wagen, um aus einer Phase herauszukommen, in der missionarisch nicht viel passierte. Ich habe den Kongress bereits vorher in Paris erlebt und gespürt, dass der Heilige Geist hier Dinge in Bewegung setzt. Als man mir vorschlug, den Missionskongress in Lyon zu veranstalten, habe ich habe keine Sekunde gezögert, diese großartige Chance zu ergreifen.

In Ihrem neuen Hirtenbrief bezeichnen Sie die Mission als Daseinsgrund der Kirche. Gleichzeitig werden missionarische Initiativen – wie auch der Missionskongress – vor allem von Laien getragen werden, oft neben den diözesanen Strukturen. Welche Rolle hat die Institution Kirche da zu spielen?

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Es sind nicht die Laien auf der einen und die Priester und Ordensleute auf der anderen Seite, sondern es ist die gesamte Kirche, der die kirchliche Sendung obliegt. Es stimmt, oft sind es Laien, die missionarisch tätig sind – und das ist gut so. Gleichzeitig gibt es auch viele missionarische Priester, Ordensleute und geweihte Personen. Und das ist das Schöne: Wir müssen gemeinsam wirken, wie es der Herr von uns will. Er vertraut den missionarischen Auftrag seiner ganzen Kirche an. Nicht jeder hat die gleiche Rolle in der Kirche, aber wir sind ein Leib, ein Ganzes, und müssen gemeinsam auf den Heiligen Geist hören, um diesen Auftrag zu erfüllen.

In Frankreich verbannt die laizistische Republik das religiöse Leben weitgehend in den Bereich des Privaten. Welche Rolle kann in dieser Situation das Wort eines Bischofs überhaupt spielen?

Diese Frage habe ich kürzlich Kardinal Parolin gestellt, als ich mit den französischen Bischöfen zum Ad-Limina-Besuch in Rom war. Tatsächlich beziehen wir Bischöfe in Frankreich zu einer Reihe von gesellschaftlichen Debatten Stellung. Manchmal werden wir dabei zur Zielscheibe von medialen Angriffen und fragen uns dann, ob unsere Beiträge wirklich konstruktiv wirken oder ob es nicht besser wäre, zu schweigen. Die Antwort von Kardinal Parolin war sehr klar: Machen Sie weiter. Es ist unser bischöflicher Dienst an der Gesellschaft und dem Gemeinwohl, mit Bedacht und ohne Aggressivität Stellung zu nehmen und die Wahrheit zu verkünden. Es fehlt den Menschen heute an Bezugspunkten, da unveränderliche und grundlegende natürliche Tatsachen mehr und mehr dekonstruiert werden. In zwanzig oder dreißig Jahren wird man uns dafür danken, dass wir uns zu Wort gemeldet haben – oder uns umgekehrt vorwerfen, wenn wir geschwiegen haben.

Was ist das wichtigste christliche Zeugnis, das die Gesellschaft heute braucht?

Die Offenheit für die Transzendenz, für Gott. Die derzeitige Krise ist vor allem eine Verdunklung des Gottessinns. Danach erst kommen die ökologische, soziale, finanzielle und alle anderen Krisen. Sie alle haben ihre Wurzeln in einer geistlichen Krise. Der Mensch ist von Natur aus auf Transzendenz hin ausgelegt. Immer schon haben sich Menschen Gedanken über das Leben nach dem Tod gemacht. Das erste und wichtigste Zeugnis von uns Christen in der Gesellschaft ist also das, was Jesus im Evangelium sagt: Wendet euch Gott zu und ihr werdet gerettet! Wir müssen unseren Zeitgenossen helfen, sich für die Gegenwart Gottes zu öffnen. Dazu ist die Entwicklung einer echten Innerlichkeit nötig. Wir leben in einer überdigitalisierten Welt, die so oberflächlich ist wie die Bildschirme, durch die wir sie wahrnehmen. Wir müssen den Menschen helfen, in die Tiefe ihres Selbst zu gehen, denn dort entdecken wir Bedürfnisse, die nicht materieller Natur sind, nämlich unseren Durst nach Ewigkeit, nach Gott.

Das Image der Kirche ist heute stark beschädigt und wird es nach der Veröffentlichung des Berichts zum sexuellen Missbrauch in der Kirche Frankreichs am 5. Oktober noch mehr sein. Man könnte meinen, dies sei eher ein Moment, um „den Ball flachzuhalten“.

Olivier de Germay

In den 70ern und 80ern hat sich die Kirche weitgehend versteckt. Unseren Zeitgenossen haben wir damit keinen Gefallen getan; im Gegenteil: Das hat die Säkularisierung vorangetrieben. Jetzt ist nicht Verstecken angebracht, sondern Demut! Wir alle sind Sünder. Und ja, manche sind sogar traurigerweise noch Schlimmeres. Wir verkünden aber Jesus Christus nicht, weil wir denken, wir seien etwas Besseres. Wir verkünden Jesus Christus, weil er kommt, um uns von der Sünde zu befreien. Das müssen wir bescheiden und demütig, aber auch mutig tun.

In Deutschland hat die Veröffentlichung eines ähnlichen Berichts zu sexuellem Missbrauch eine große innerkirchliche Debatte darüber ausgelöst, was die Kirche eigentlich ist und was sie die der Welt zu bieten hat. Wieviel Vielfalt kann es im christlichen Zeugnis geben, ohne dass die Einheit der Botschaft beschädigt wird?

Wir müssen unser Verständnis der Kirche vertiefen. Wenn die Krise des sexuellen Missbrauchs uns bei einer notwendigen Läuterung hilft, umso besser. Denn in der Tat müssen wir uns als kirchliche Gemeinschaft immer wieder in Frage stellen. Gleichzeitig dürfen wir die Kirche nicht nur von außen mit der soziologischen Brille betrachten. Die Kirche ist in erster Linie ein Mysterium. Sie ist die geliebte Braut Christi, für die er sein Leben gegeben hat. Deshalb müssen auch wir die Kirche lieben. Durch ihre Mitglieder gibt es in der Kirche Sünde, gleichzeitig ist die Kirche aber heilig. Dank der Kirche haben wir Zugang zu Christus. Wir können also Christus nicht bezeugen, wenn wir uns außerhalb der Kirche stellen. Sie ist das Werkzeug, das Christus dazu erwählt hat, sein Erlösungswerk fortzusetzen. Wenn wir die Kirche auf diese Weise betrachten, dann können wir in ihr unseren Platz finden und das Paradox aushalten, dass wir uns oft für das schämen müssen, was Glieder dieser Kirche tun oder getan haben.

In Lyon selbst gibt es zahllose Gemeinschaften, Initiativen, Priester und ein blühendes geistliches Leben. Wie aber können die vielen ländlichen und zum Teil weitgehend entchristlichten Regionen wieder für Christus gewonnen werden?

Gestern Morgen habe ich hier auf dem Kongress Personen getroffen, die in der Pastoral auf dem Land engagiert sind. Auch dort gibt es Initiativen, vielleicht weniger sichtbar als in den Großstädten, aber dort ist nicht alles tot. Angesichts der sinkenden Zahl von Priestern müssen wir über andere Formen der kirchlichen Präsenz nachdenken. Vor noch nicht allzu langer Zeit gab es in jedem Dorf einen Pfarrer. Wir verlassen nun diese Ära, in der der Priester irgendwie alles gemacht hat. Wir dürfen aber nicht meinen, vom Glauben sei nichts mehr übrig, wenn der Priester weg ist. Auch an Orten, die zu Pfarreiengemeinschaften mit 10, 20 oder 30 Pfarreien gehören, können Christen gemeinsam beten, sich zusammenfinden, die Kirche öffnen und Initiativen starten. Daneben ist es natürlich unerlässlich, dass wir uns zur Eucharistie versammeln. Aber es gibt im christlichen Leben nicht nur die Eucharistie. Die Gläubigen können und sollen vor Ort selbst initiativ werden.

Der Missionskongress ist fast vorbei. Können Sie bereits ein erstes Fazit ziehen?

Der Missionskongress geht zu Ende, aber die Mission beginnt erst! Das Ziel des Kongresses ist es, uns in unserer missionarischen Ausrichtung zu erneuern und zu stärken. Ich danke Gott für alles, was ich während dieses Kongresses höre und sehe. Ich spüre die wunderbare Dynamik und hoffe, dass sie der Kirche in Frankreich einen neuen Impuls geben wird, damit wir Christus noch freier als den wahren Retter dieser Welt verkünden.

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