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Katholische Kirche in Frankreich: Die Wunde soll heilen dürfen

Die katholische Kirche in Frankreich hat mit den ersten Anerkennungs- und Entschädigungszahlungen an Missbrauchsopfer begonnen. Weitere Zahlungen folgen. Dennoch bleibt die Frage, wie die Wunde heilen soll und welchen geistlichen Weg die Kirche nach der Missbrauchskrise einschlagen kann.
Missbrauchsopfer der katholischen Kirche
Foto: Romano Siciliani/s (imago stock&people) | Ein Missbrauchsopfer demonstriert vor der Engelsburg in Rom. Die Folgen der Krise belasten die gesamte Kirche.

Ein Aspekt der Messe, der mir im Verlauf der Jahre immer stärker auffällt, ist der Nachdruck, der in den letzten Gebeten, die der heiligen Kommunion vorausgehen, auf Heilung gelegt wird. Eine der frühesten außerbiblischen Begriffsbestimmungen, die wir über das Mahl des Herrn haben, ist ein Hinweis in dem Brief von Ignatius von Antiochien an die Epheser. Ignatius bezeichnet die Eucharistie als „die Medizin der Unsterblichkeit“. Der Tod ist das Leiden, für das die Eucharistie vornehmlich ein Heilmittel ist. Und der Tod ist, so wissen wir, „der Lohn der Sünde“ (Römer 6,23).

„Dem Leben bin ich eine lebende Tote. Mit 66 Jahren bin ich so leer, dass es mir schwer fällt, Worte zu finden, um gegen dich aufzubegehren.“ 

Zeugnis von Catherine, zitiert im Sauvé-Bericht

Heilung durch die Eucharistie

Die heilende Wirkkraft der Eucharistie liegt in der Weise, wie sie uns in das Geheimnis Christi einbindet. Die eucharistische Heilung unterscheidet sich von der hippokratischen Heilung. Letztere ist auf die Bewahrung des Lebens ausgerichtet. Erstere befähigt uns, unser Leben abzulegen.

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In einem weiteren Brief, den Ignatius an die Christen in Rom geschrieben hat, lässt er sich nicht von fehlgeleitetem Wohlwollen davon abbringen, sein Leben anzubieten: „Verzeihet mir, Brüder; hindert mich nicht, das Leben zu gewinnen, wollet nicht meinen Tod, gönnet mich, da ich Gottes eigen sein will, nicht der Welt und täuschet (mich) nicht mit Irdischem; lasset mich reines Licht empfangen. Wenn ich dort angelangt bin, werde ich ein Mensch sein“.

Ignatius, der treue Bischof, der das Sakrament mit seelischer Stärke gespendet hat, betont eindringlich: seine verwundete Menschheit wird nur dann ganz wiederhergestellt, wenn er in Gemeinschaft mit seinem Herrn sein Leben opfert. Das ist ein nobles Vorbild für uns, das einem hohen Ideal entspringt.

Dieses Ideal ist leider allzu oft von Menschen in den Dreck getreten worden, die es eigentlich hätten verkörpern und von ihm hätten verwandelt werden sollen.

 

Bittere Lektüre

Die Lektüre des Sauvé-Berichts über den Missbrauch in der Kirche Frankreichs während der letzten 70 Jahre hat mich dieses Jahr gezeichnet. Es handelt sich um eine ausgesprochen schwere Lektüre. Der Missbrauchsskandal ist etwas, über das wir alle lieber nicht nachdenken würden. Die unerbittliche, scheinbar endlose Entfaltung von Schrecklichkeiten scheint mehr, als wir ertragen können. Doch wir müssen uns dem stellen. Nur die Wahrheit macht uns frei.

Das Trauma des Missbrauchs hat mich während meines ganzen geweihten Lebens begleitet. Ich bin 2002 ins Kloster eingetreten, zu einer Zeit, als Fälle sexuellen Missbrauchs durch Geistliche, einschließlich von Ordensleuten, in Großbritannien so oft und so umfangreich veröffentlicht wurden, dass ich Zeiten eines ständigen Gefühls der Übelkeit durchlebte. Den Novizenhabit in solch einem Klima anzulegen war eigentümlich. Das Gewand, das für meine höchste und freudigste Sehnsucht stand, setzte mich in eine Art symbolischen Zusammenhang mit dem Begehen von Taten, die immensen und in manchen Fällen nicht wiedergutzumachenden Schaden angerichtet hatten. Es ist schwer, sich nicht durch Assoziationen verschmutzt und mehr oder weniger innerlich schuldig zu fühlen. Dieser Reflex bestätigte sich, wenn ich hin und wieder einen kurzen Blick darauf erhaschte, was andere bei meinem Anblick, einem Repräsentanten des Klerus, sehen mochten.

Tiefe Wut

Ein Jahrzehnt nach meiner Einkleidung, als das Ausmaß des Missbrauchs durch Ordensleute und Priester überall in Europa zunehmend erkannt wurde, war ich eines schönen blauen Morgens auf dem Weg zur römischen Basilika Santa Maria Maggiore, um zum Orientalischen Institut zu gelangen. Auf der Via Panisperna traf ich auf eine Frau mittleren Alters, die mir seelenruhig mit voller Absicht ins Gesicht spuckte. Ich konnte die tiefe Wut und den tiefen Schmerz, denen ihr Handeln entsprang, intuitiv erkennen. Vielleicht konnte ich sie sogar verstehen. Sicher konnte – und kann – ich mit ihr mitfühlen. Ich habe kürzlich an sie gedacht, als ich im Sauvé-Bericht auf folgende Aussage von Martin, einem Missbrauchsopfer, stieß: „Der Mistkerl hat jedes echte Gefühl von Liebe und Mitgefühl in mir ausgelöscht. In puncto Liebe bin ich behindert, unfähig, Liebe zu geben oder zu empfangen. Ich kann sie höchstens vortäuschen. Doch was ist ein Leben ohne Liebe?“

Was für eine schreckliche, schreckliche Anklage! Und dieser Schaden wurde durch einen Mann bewirkt, der die Medizin der Unsterblichkeit hätte spenden und ein Stellvertreter des göttlichen Heilers hätte sein sollen; jemanden, der Gnade, Heilung, Vergebung und Stärkung hätte bringen sollen. Kein Wunder, dass glühende Ströme von Wut hervorbrechen und ihr Fluss nicht nachlässt.

Wir erkennen Ausdrücke dieser Wut in einer Abneigung gegenüber dem Katholizismus, die in diesen Tagen im öffentlichen Diskurs der westlichen Welt leicht an Fahrt gewinnt und die Stimme der Kirche durch einen Chor von Vorwürfen übertönt, so dass sogar diejenigen, deren Aufgabe es wäre, im Namen der Kirche zu sprechen, Angst haben, ihre Stimme zu erheben.

Das ist ein trauriger Zustand für die Katholiken. Und doch ist dies keine Zeit für Selbstmitleid. Die Kirche - wir alle – muss beziehungsweise müssen uns, diesem heranwachsenden Geist des Trotzes stellen, denn er ist nicht unberechtigt. Damit der Geist des Widerstands – der nicht unberechtigt ist – sich erhebt, muss die Kirche reagieren, müssen wir reagieren.

Zeit des Abfalls vom Glauben 

Was das Vermächtnis des Missbrauchs betrifft, müssen wir unbedingt darauf beharren, dass auch diese Medaille zwei Seiten hat. Wir berufen uns auf die vielen heiligen Priester und Ordensleute, die wir kennen, das Gute, das die Kirche getan hat und weiter tut, das Leiden derer, deren Leben durch falsche Anschuldigungen zerstört ist. Dies sind stichhaltige Punkte. Doch es bleibt eine Tatsache, dass Missbrauch und Untreue wie eine Seuche waren. Dichte und Reichweite dieses dunklen Schattens sind immens.

Es ist wahrscheinlich, dass man sich an die letzten 50 Jahre, die anfangs als  Anbruch eines neuen Pfingsten begrüßt wurden, als eine Zeit des Abfalls vom Glauben erinnern wird. Ich versuche nicht, unnötigerweise Endzeitstimmung zu verbreiten. Doch es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen, um die auf uns zugeschnittene Aufgabe zu erkennen. Denn es wartet Arbeit auf uns! Ich bin überzeugt, dass es äußerst wichtig ist, diese Krise in einer theologischen Perspektive zu lesen und eine theologische Antwort zu formulieren.

Auf praktischer Ebene ist Gott sei Dank bereits viel getan worden. Es ist schmerzlich, aber gut, das Ausmaß des Missbrauchs zu erfassen. Die Sorge für die Opfer ist ganz entscheidend. Missbrauchstäter müssen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. Juristische und kanonische Reformen zur Gewährleistung der Wirksamkeit fälliger Prozesse sind gut. Es ist gut, klare Schutzmaßnahmeverfahren zu haben. Es ist gut, dass wir Worte gefunden haben, um über eine Verdorbenheit zu sprechen, die sich zu lange im Stillen ausgebreitet hat. Wenn wir uns als Gläubige mit dieser Krise befassen, ist jedoch noch mehr erforderlich. Denn wir stehen nicht nur vor einem Vermächtnis des Verbrechens. Wir stehen vor einem Vermächtnis der Sünde.

Mit eiternden Wunden leben

Sünde, so wissen wir, kann vergeben werden. Die Kirche hat immer in Übereinstimmung mit der Schrift gelehrt, dass Gott rasch vergibt. Jeden Tag wird die Eucharistie „zur Vergebung der Sünden“ dargebracht. Die Tatsache, dass eine Sünde vergeben wurde, schafft jedoch den durch die Sünde verursachten Schmerz nicht fort – ob für den Sünder oder diejenigen, die durch die Folge der Sünde betroffen sind. Es dürfte immer noch die Erfordernis für Wiedergutmachung und Läuterung bestehen, ob in diesem Leben oder im nächsten. Die Theologie spricht einfach von der „zeitlichen Strafe für Sünden, die schon getilgt sind“. Ich persönlich finde es hilfreich, im Sinne des „Lohns der Sünde“ zu denken.

Wir wissen aus Erfahrung, wofür dies steht, dass eine begangene Sünde eine Wunde in unserer Seele hinterlässt, eine Wunde, auf die wir immer weiter den Balsam von Gottes Barmherzigkeit gießen müssen. Je schwerer die Sünde, desto ansteckender ist die Wunde und desto langsamer heilt sie.

Heutzutage Katholik zu sein heißt, mit einer eiternden Wunde zu leben, die nach Heilung schreit. Wer fordert diese Wunde ein, um sie vor Gott zu bringen, so dass sie schließlich wieder heil werden kann? Lassen Sie mich eine Parallele zum frühen 19. Jahrhundert ziehen, um zu erklären, was ich mit dieser Frage meine. Im Gefolge der Französischen Revolution und den Gräueln, die in ihrem Namen begangen wurden, fiel das katholische Frankreich auf die Knie und betete um Wiedergutmachung.

Die dem heiligen Herzen geweihte Basilika auf dem Montmartre ist ein Denkmal für die zunehmende Reue über den moralischen Verfall. In ihrer Kuppel können Sie in goldenen Buchstaben folgende Widmung lesen: „Sacratissimo Cordi Iesu Gallia poenitens et devota et grata“. Dem heiligsten Herzen Jesu – das reumütige, ergebene und dankbare Frankreich.

Die Buße nicht vergessen

Die Basilika wurde als ein Versprechen der Buße gebaut, als ein Raum für ununterbrochenes Gebet vor dem Allerheiligsten, um Christi eucharistische Gnade auf eine gebrochene Nation herabzurufen. Was die Basilika äußerlich repräsentiert wurde von zahllosen Seelen im Inneren und Verborgenen gelebt.

Wenn wir diesen Aspekt aus den Augen verlieren, werden wir nie das Wiederaufleben des religiösen Lebens nach der Revolution verstehen. Noch werden wir die Inbrunst der Mystik des neunzehnten Jahrhunderts zu würdigen wissen. Das geheimnisvolle Wort des heiligen Paulus, zu ergänzen, „was an den Leiden Christi noch fehlt“, wurde von vielen Gläubigen als persönlicher Ruf wahrgenommen. Das Heilsopfer wurde einmal für alle auf Golgatha vollzogen. Es ist vollkommen. Doch es ist nicht zu Ende. Es entfaltet sich innerhalb der Kirche, des Leibes Christi, durch reale Präsenz. Pascal schrieb in den „Pensées“: „Christus bleibt bis zum Ende der Zeiten im Todeskampf. Das ist keine Zeit, zu schlafen“. Viele gute Christen haben ihren Anteil an der Aufgabe angenommen, durch Christus, in ihm und mit ihm den von anderen verursachten Schaden wiedergutzumachen.

Wir sollten diese Art von Frömmigkeit nicht leichtnehmen. Während sie gelegentlich seltsame Formen angenommen haben mag, ruhte sie doch auf einem festen Grund. Bevor die Sünde „hinweggenommen“ wird, muss sie angenommen und getragen werden. Das ist die Bedeutung des Kreuzes, das zu teilen Christus uns aufruft, durch ein Geheimnis, das in die Struktur der Eucharistie eingebunden ist. Das siegreiche Lamm ist nicht vom Opferlamm zu trennen, dem Lamm, das die Sünden der Welt trägt.

Ich glaube, dass in der heutigen Kirche eine immense Arbeit des „Mittragens“ zu leisten ist. Ich glaube, dass dieses bewusst und frei angenommene „Mittragen“ eine Vorbedingung für die Heilung ist. Diese Aufgabe obliegt vor allem uns, die wir als Priester und Ordensleute nahe am Herzen der Kirche leben, Christi Herzen, das grausam von der Sünde verletzt wurde. Doch sie obliegt nicht uns allein.

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Unser Anteil 

Sind wir bereit, unseren Anteil um der Liebe Christi willen zu übernehmen? Ist unser Herz wachsam, offen, empfindlich genug, um den Schrei der Armen zu hören und ihr Leid zu spüren? Teilen wir Christi Wut und Schmerz angesichts von Gräueltaten, die gegen seine Kleinen begangen werden? Dies sind drängende Fragen, wenn wir in der Erneuerung, derer wir dringend bedürfen, die vertikale Achse des kirchlichen Lebens aufrechterhalten wollen.

Und was ist die Kirche ohne eine vertikale Achse? Eine humanitäre Wohltätigkeitsveranstaltung, mehr nicht – die für sich selbst gesehen sicher ein ausgezeichnetes Vorhaben ist, doch kaum ein Ereignis, das unser Leben erneuert und ihm eine Richtung gibt, unsere Liebe entzündet, unsere Hoffnung stärkt, unsere Freude läutert und angesichts des Todes Mut und Frieden in uns aufkommen lässt. Leben und Tod in Christus fallen nicht vom Himmel.

Man muss tapfer danach streben. Der Sohn Gottes ist nicht Mensch geworden, um Zuckerbrot auszuteilen, sondern um die Welt zu erlösen. Wenn wir heute auf die Welt schauen, ist es klar, dass dies noch bitter nötig ist. Ob sich das heilende Potenzial des Heilsmysteriums in unserer Zeit als wirksam erweisen wird, hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil von uns ab, die wir von Christus dazu aufgerufen sind, als Glieder seines Leibes zu leben – davon, wie wir die uns anvertraute Gnade verwalten, damit sie sich auszubreiten vermag.


Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller.

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