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Münchener Missbrauchsgutachten: Moralin statt Beweise

Kardinal Marx bleibt der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens für das Erzbistum München und Freising fern. Die Kanzlei Westphal versucht sich an der medialen Hinrichtung des emeritierten Papstes.
Münchner Missbrauchsgutachten wird vorgestellt
Foto: Sven Hoppe (dpa POOL) | Martin Pusch, Marion Westpfahl und Ulrich Wastl nehmen bei der Vorstellung des Gutachtens zu Fällen von sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising besonders Papst Benedikt XVI. in den Fokus.

Die Münchner Max-Joseph-Straße ist ein ruhiges Pflaster. Auch am Donnerstag hält sich der mediale Trubel im Haus der Bayerischen Wirtschaft in Grenzen. Der bei kirchlichen Medienereignissen inzwischen fast unvermeidliche Wagen mit der Karnevalsfigur des Hängemattenbischofs, einige Anhänger von „Wir sind Kirche“ und ein Van, der für Kirchenaustritte wirbt, stehen nahezu unbeachtet vor der Tür. Der Münchener Generalvikar Christoph Klingan, Amtschefin Stephanie Herrmann und Pressesprecher Christoph Kappes vertreten das Erzbistum München.

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Kardinal ist abwesend

Der große Abwesende des Tages ist Kardinal Reinhard Marx. Vor 20 im Saal präsenten Journalisten – weitere sind per Zoom zugeschaltet - und einigen Betroffenenvertretern bedauert Rechtsanwältin Marion Westpfahl das Fernbleiben des Ortsbischofs an der Vorstellung der von seinem Erzbistum 2020 in Auftrag gegebenen Studie über Missbrauchsfälle im Erzbistum zwischen 1945 und 2019. Schon der Auftakt deutet darauf hin, dass belastbare Fakten hinter hier einer moralisch aufgeladenen Inszenierung zurückzustehen haben: Just die „Unterstellung“, dass die Kirche ein „Verantwortungsverdunstungsbetrieb“ sei, bildet den Einstieg in die Präsentation des Gutachtens.

Schon nach acht Minuten, ehe Methodik, Zahlen und andere Fakten erläutert worden sind, deutet Westpfahl Urteilsvermögen an „systemisches Versagen“ und eine „Verniedlichung des Geschehens als Aneinanderreihung bedauerlicher Einzelfälle“, der es entgegenzutreten galt. Ein Tribunal hat angefangen, dessen Urteile Differenzierungen vermissen lassen. Die Untersuchung des Umgangs sexueller Missbrauchsfälle soll sich nicht auf die strafrechtlichen Aspekte beschränken: „Es geht um individuelle Schuld.“

Neue Erkenntnisquelle

Als maßgeblich benennt Westpfahl den Mehrwert, den neue Erkenntnisquellen durch Betroffene, die 2010 noch nicht zur Verfügung gestanden hätten, ermöglicht hätten: 56 Personen hätten als Zeitzeugen Fragen beantwortet. Vieles, was die Kanzlei bei der Untersuchung feststellte, deckt sich mit den Erfahrungen anderer Bistümer: Mangelhafte Aktenführung, die Beobachtung, dass sich viele Betroffene erst 2010 nach jahrelangem Schweigen meldeten, der Peak der Übergriffe in den 60er und 70er Jahren, der weit überdurchschnittliche Anteil männlicher Jugendlicher.

Im Fokus steht Papst Benedikt, ehemaliger Erzbischof von München und Freising, Joseph Ratzinger, der von 1977 bis 1982 als Oberhirte an der Isar wirkte, ehe er nach Rom berufen wurde. Man habe, so Westpfahl, die seinerzeitige Beurteilung seines Verhaltens „überprüft und korrigiert“. Die Kanzlei wirft ihm konkret in vier Fällen Pflichtwidrigkeiten, darunter der Fall eines Essener Pfarrers, der sich des Missbrauchs schuldig gemacht hatte und dann nach München versetzt wurde, um dort eine Therapie zu machen. In München beging er weitere Missbrauchstaten und wurde mehrfach versetzt. Der Fall schlägt seit Wochen hohe Wellen in den Medien und nimmt eine Sonderstellung im Gutachten ein. Es enthält eine umfangreiche Stellungnahme des emeritierten Papstes, der stets dementiert hat, über die Untaten des Geistlichen informiert gewesen zu sein.

Überwiegend wahrscheinlich

Dass hier Profilierungswille seitens der Kanzlei im Spiel ist, lässt Rechtsanwalt Ulrich Wastl durchblicken: „Wir nehmen das zum Anlass, um Ihnen zu zeigen, was wahre Aufklärung und wahre Aufarbeitung bedeutet“. Triumphierend hält er ein Papierkonvolut in die Höhe: Das Protokoll einer Sitzung im Münchner Ordinariat am 15. Januar 1980 - „das müssen Sie mir äußerungsrechtlich glauben“, - in der um den Fall des Priesters H. geht. Entgegen bisheriger Darstellung habe Kardinal Ratzinger daran teilgenommen. Wastl hält es für „überwiegend wahrscheinlich“, dass Papst Benedikt über die Vergangenheit des Essener Priesters informiert war. Allein es fehlt der Beweis.

Worüber in der Sitzung vom 15. Januar 1980 diskutiert wurde, kann Wastl nicht präzisieren und verweist auf „die kreative Protokollierung“ in katholischen Bistümern. Auf Nachfrage antwortet Wastl mit einer geballten Ladung Moral: „Was für ein Amtsverständnis ist das eigentlich, wenn ich einen Priester übernehmen soll, von dem ich psychotherapeutisch behandelt wird, und dann frage ich mich noch nicht mal weshalb“. Dass das Stichwort „Psychotherapie“ in den 80er Jahren nicht automatisch den Verdacht auf Missbrauch hervorrief, soll scheinbar außen vor bleiben.

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Ein Durchbruch

Als weiteren Belastungszeugen gegen Papst Benedikt wird der frühere Generalvikar Gruber angeführt, der 2010 die Alleinverantwortung für die Übernahme Essener Geistlichen übernommen habe, diese Aussage aber nun „relativiere“. Äußerungsrechtliche Bedenken haben Gruber offensichtlich von einem aktenkundigen Dementi abgehalten, auch hier wirft Wastls in salbungsvollem Duktus vorgetragener angeblicher „Durchbruch“ in der Aufklärung Fragen auf.

Angesichts der deutlichen Sensibilisierung für sexuelle Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche bescheinigt die Kanzlei Marx‘ bemerkenswerte Untätigkeit: Ungeachtet zahlreicher Meldungen von Betroffenen sei nur in „verhältnismäßig geringer Zahl“ festzustellen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe, so Rechtsanwalt Martin Pusch. Die Kanzlei wirft Marx konkret in zwei Verdachtsfällen fehlerhaftes Verhalten vor.

Ein Sonderfall bildet der langjährige Offizial Lorenz Wolf, der der Studie als solcher ablehnend gegenüberstand. Ihm wird von der Kanzlei ein haarsträubendes Zeugnis ausgestellt, wie sich an der Anzeige eines Betroffenen wegen versuchter Erpressung, der später als Opfer anerkannt wurde, unschwer ablesen lässt.

Stellungnahme des Erzbistums in einer Woche

Das bis heute unter Verschluss gehaltene erste Gutachten der Kanzlei Westpfahl aus dem Jahr 2010 bleibt, so ist abschließend, zu erfahren, weiter im Tresor. Äußerungsrechtliche Bedenken stehen einer Veröffentlichung des Gutachtens, das Westpfahl zufolge die Überwindung „massivster Widerstände“ innerhalb des Erzbistums forderte, im Weg. Die Leitung des Erzbistums hat nun eine Woche Zeit, um das umfangreiche neue Gutachten gründlich durchzuarbeiten und bezieht kommende Woche öffentlich Stellung. Dann wird auch Kardinal Marx dabei sein. Seinem Generalvikar Klingan fiel heute die Aufgabe zu, das Konvolut in Empfang zu nehmen. Dass es an die Standards der Gercke-Studie für das Erzbistum Köln heranreicht ist, nach der Inszenierung in München kaum vorstellbar.    

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