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Im Mysterium des Lebens

Der norwegische Autor Karl Ove Knausgaard verbindet Literatur und Wirklichkeit. Ein Porträt.
Karl Ove Knausgard
Foto: dpa | Die Romane des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgaard erzeugen einen Sog, dem sich der Leser nur schwer entziehen kann.

Will man in die Wirklichkeit eindringen, wie sie für den Einzelnen ist – und irgendeine andere Wirklichkeit gibt es nicht –, will man es wirklich, dann kann man keine Rücksicht nehmen. Und das tut weh. Es schmerzt, wenn keine Rücksicht genommen wird, und es schmerzt, keine Rücksicht zu nehmen.“

Man kann sich unschwer vorstellen, wie viele Menschen der 1968 in Norwegen geborene und in Schweden lebende Schriftsteller Karl Ove Knausgaard mit seinem sechsbändigen Autobiografie-Projekt verletzt haben mag. Auf viereinhalbtausend Seiten seziert er akribisch sein eigenes und das Leben aller zu ihm in Verbindung stehenden Personen, ohne die geringste Rücksicht auf Familie, Freunde, Kollegen, in jedem Moment auf der Suche nach Wahrhaftigkeit. Hier von purer Egozentrik oder Eitelkeit zu sprechen, würde den Wesenskern des Autors nicht treffen, auch wenn beides naturgemäß keine geringe Rolle spielt, – und er offenbart sich, seine Gefühle, Gedanken und die daraus resultierenden Handlungen in jedem seiner Bücher so schonungslos, dass man ihn zu kennen meint.

Herausfinden, was im Leben jedes Einzelnen zählt

Nein, seine ungeheure Ernsthaftigkeit, seine Radikalität, sein geradezu naives Wissen- und Ergründenwollen treiben ihn durchs Leben, und das Ergebnis muss minutiös dokumentiert werden, zunächst in Tagebüchern, bevor daraus die „Roman“ genannten Werke entstehen. Die sechs Bände, die im Original den Titel Min Kamp („Mein Kampf“) tragen, heißen auf Deutsch Sterben, Lieben, Spielen, Leben, Träumen und Kämpfen, wobei der letzte, in Norwegen 2011 erschienene Band mit 1 269 Seiten der umfangreichste und gewichtigste ist.

Mit Kämpfen ist das Projekt an sein Ende gelangt, der Zyklus soll nicht fortgesetzt werden. Man wüsste auch nicht, was diesem Opus Magnum noch folgen sollte – es stellt die Quintessenz von Knausgaards literarischer Selbsterforschung und -erkenntnis dar und baut auf den vorhergegangenen Büchern auf, deren vorhersehbare Auswirkungen nicht ausgespart werden.

Erinnerungen von Verwandten und Freunden

Der Autor hatte vor dem Druck des ersten Bandes „Sterben“, in dem es um den an Alkoholsucht gestorbenen Vater und dessen demente Mutter geht, das Manuskript an Verwandte und Freunde geschickt, damit sie gegebenenfalls seine eigenen Erinnerungen korrigieren können – wohl wissend, wie unterschiedlich diese ausfallen können – und wird von der heftigen Reaktion seines Onkels völlig überrascht: Er fordert die Tilgung sämtlicher Namen und erkennbarer Umstände und droht mit dem Gericht.

Nun beutet Knausgaard sein Umfeld aber nicht nur aus, er dramatisiert es und gibt ihm eine fiktive Form (daher auch „Roman“). Die reale Namensnennung hält er für wichtig, weil sich nur so die Leser mit den Figuren und deren Problemen identifizieren könnten. Weil erst mit dem Namen ein Mensch als Individuum existiert und wahrgenommen wird. Er zitiert aus Paul Celans Gedicht „Engführung“: „Der Ort, wo sie lagen, er hat einen Namen – er hat keinen.“ Auschwitz ist gemeint, die Massenvernichtung von Menschen, die als Einzelwesen im System des Nationalsozialismus keine Bedeutung hatten. Nur das „Wir“ und das „Sie“ zählten.

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Studierte "Mein Kampf" von Adolf Hitler

Über Celan und Auschwitz kommt Knausgaard auf Hitler. Im Nachlass seines Großvaters hat er ein Exemplar von „Mein Kampf“ gefunden und studiert es ausführlich. Mehr als einhundert Seiten lang währt die Beschäftigung mit Hitler („Mein Kampf erschien 1925, … das Buch ist furchtbar und abstoßend, als hätte der Teufel persönlich es geschrieben. Zum Zeitpunkt der Entstehung war sein Autor Adolf Hitler jedoch ein ganz gewöhnlicher Mann, er hatte niemanden ermordet, hatte nicht die Tötung anderer befohlen, hatte nichts gestohlen oder niedergebrannt.“) Knausgaard muss sich mit der ihm eigenen Besessenheit über Jahre mit dem Thema befasst haben. Um das Ungeheuerliche zu verstehen, kriecht der Autor in das Leben von Hitler hinein und beschreibt seine Entwicklung vom Kind über die armselige Jugend bis zum immer noch schwer nachzuvollziehenden Aufstieg zum Diktator, der ohne seinen unbedingten Willen, „groß und berühmt“ zu werden, nicht zu erklären wäre.

Knausgaard versucht mit Hilfe der Werke etwa von Victor Klemperer, Ernst Jünger, Martin Heidegger und Giorgio Agamben einen Begriff von dem zu bekommen, was geschehen ist, er sieht Claude Lanzmanns neunstündige Dokumentation „Shoa“ und begreift: Das Geschehene ist nicht unmenschlich, es ist menschlich, weil der Mensch zu solchen Gräueltaten fähig ist. Als eine späte Folge dieser Zeit nimmt er Anders Breiviks Attentat auf der Insel Utoya wahr, das 2011 im Erscheinungsjahr des letzten Bandes 69 Todesopfer forderte und das ihn zutiefst erschüttert.

Die Tür zum Religiösen offen halten

In einem steten Schreib- und Gedankenfluss nimmt der Autor seinen Leser mit in eine Welt, in der banalste Anlässe zu tiefgründiger Auseinandersetzung eines vielseitig (im wahrsten Sinne des Wortes) belesenen Geistes führen. Die „amerikanisierte“ Abschlussfeier seiner Tochter in einer Kirche und das daran anschließende Gespräch mit der Leiterin des Kindergartens der jüngeren Kinder bringt den protestantischen Christen zu Reflexionen über das Christentum in heutiger Zeit: „Kirche und Staat waren längst getrennt, und nun war es so weit gekommen, dass die Pastoren Gott, Jesus oder die Bibel nicht einmal mehr erwähnten, wenn sie vor Schülern predigten.

Es könnte sie verletzen, viele von ihnen kamen ja aus muslimischen Elternhäusern... Diese totale Selbstauslöschung, die in ihrem Nivellierungswillen aggressiv war, sich aber selbst als tolerant begriff, war ein Phänomen der kulturellen Mittelklasse, also dem Teil der Gesellschaft, der die Medien, die Schulen und andere große gesellschaftliche Institutionen beherrschte...“ Und an anderer Stelle: „Als wir die Tür zum Religiösen schlossen, schlossen wir auch die Tür zu etwas in uns selbst. Es verschwand nicht nur das Heilige, sondern auch die mit ihm untrennbar verbundenen intensiven Gefühle.“

Ein Sog, dem man sich nicht mehr entziehen kann

Karl Ove Knausgaard sucht in jedem Menschen das Einzigartige, das Besondere. Er sucht nach Sinn, und er tut es auf die einzige Weise, die ihm möglich ist: Lesend und schreibend nähert er sich einer Welt, die zu verstehen immer schwerer wird – trotz oder gerade wegen der allgegenwärtigen Präsenz von Informationsinstrumenten und vermeintlicher Transparenz.

Das Große, das Mysterium des Lebens entdeckt dieser Chronist im Alltäglichen, und wenn wir ihn und seine Kinder auf ihren Wegen durch den Tag begleiten, wenn wir seine Fürsorglichkeit (und seine Qual) im Umgang mit der manisch-depressiven Ehefrau und Mutter seiner Kinder miterleben, dann nehmen wir nicht nur teil am Knausgaard-Universum, sondern entdecken das eigene darin. Und das erzeugt den Sog, dem man sich – einmal angefangen – nicht mehr entziehen kann.

Als letzter Roman ist von Karl Ove Knausgaard erschienen:
Kämpfen. Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg,
btb München, 1 280 Seiten, EUR 15,–

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