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Jürgen Henkel: „Ich lese keinen Theologen so gern wie Joseph Ratzinger“

Der evangelisch-lutherische Pfarrer Jürgen Henkel setzt mit der Gründung der Zeitschrift „Auftrag und Wahrheit“ ein unkonventionelles Signal für die Ökumene.
Papst Benedikt XVI. im Urlaub in Les Combes
Foto: picture-alliance/ dpa/OSSERVATORE_ROMANOA) | Unser Interviewpartner ist begeistert von den Schriften Joseph Ratzingers. Auch seine Dokumente aus der Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation hält er für Normtheologie.

Herr Pfarrer Henkel, was ermutigt Sie in Zeiten, in denen sich das Glaubenswissen quer durch die Kirchenbänke aller Konfessionen aufzulösen scheint, dazu, eine theologische Zeitschrift zu gründen?

Wir erleben seit Jahrzehnten einen beispiellosen Säkularisierungsschub und religiösen Traditionsabbruch in Deutschland, der auch die Kirchen selbst erreicht hat. Die Kirchen reagieren darauf teilweise gar nicht. Im kirchlichen Leben werden unsere eigentlichen Botschaften zu oft fast schon versteckt hinter politischen Themen oder erstickt in Struktur- und Reformdebatten. In vieler Hinsicht wird aber auch mit einer Anpassung an den Zeitgeist und an weltliche Strömungen reagiert. Oft meint man, durch Modernisierung der Glaubensinhalte oder auch Politisierung der Verkündigung Menschen wieder für die Kirche begeistern zu können. Aber wenn die Grundlagen verschwimmen, und das sind Glaube und Lehre, Schrift, Bekenntnis und Tradition, wird die Kirche verwechselbar und zu einem Meinungsanbieter unter vielen und somit letztlich überflüssig. Unsere neue Zeitschrift soll hier einen Beitrag leisten zur Rückbesinnung auf den wirklichen Auftrag der Kirche, Menschen zu Gott zu führen und die christliche Wahrheit wieder fröhlich, frisch und frei zu verkündigen. Die unverfälschte christliche Botschaft ist gerade in unseren Zeiten unverzichtbar. Daher auch der Titel „Auftrag und Wahrheit“.

Wie könnte eine gute Frucht der Lektüre Ihrer Zeitschrift aussehen?

Man müsste etwa die Lehrpläne für den Religionsunterricht viel stärker auf die Vermittlung von Basiswissen über das Christentum hin orientieren. Die Schüler lernen zum Beispiel meist mehr über den Islam und fernöstliche Religionen, als über die jeweils anderen Kirchen, sowie mehr Kirchenkritik als Bekenntnisinhalt.

Sie sind davon überzeugt, dass die Lebenswirklichkeit vom Wort Gottes auszulegen ist, nicht das Wort Gottes nach unserer Lebenswirklichkeit. Warum?

Viel zu oft hören wir in Theologie, in Predigten und kirchlichen Aussagen: Dies oder jenes sei heute nicht mehr vermittelbar. Das Argument hören wir ja oft genug auch im Blick auf Dogma und Bekenntnis. Schon der Begriff „dogmatisch“ ist heute negativ besetzt. In der Schriftauslegung wird oft auf den Zeitkontext der Entstehungszeit der biblischen Schriften verwiesen, wenn einem manche Aussagen nicht passen.

Wie können Christen darauf klug reagieren?

Wichtig ist, dass wir neu zu einer demütigen Haltung gegenüber der Heiligen Schrift als Wort Gottes finden und uns nicht über das Wort Gottes stellen. Das Wort Gottes soll der Maßstab sein für unser Leben und für unseren Glauben, nicht unsere Lebenswirklichkeit der Maßstab für die Auslegung der Heiligen Schrift. Solche Exegese gerät allzu schnell ideologisch. Das gilt für die Predigt ganz besonders, die Menschen die Frohe Botschaft vom Heil in Jesus Christus näher bringen und sie zu Gott führen soll, aber auch für kirchliche Aussagen. Das gilt für Katechese und Erwachsenenbildung genauso wie für Bibelabende und die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit. Der Heilige Geist ist entscheidend, nicht der Zeitgeist.

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Beide werden in der Verkündigung aber faktisch einander gleichgesetzt. Wo wollen Sie ansetzen, um dieses verbreitete Missverständnis zu korrigieren?

Wir brauchen Pfarrer, Religionslehrer, Theologen und christliche Publizisten, die den Mut aufbringen, an Schrift und Bekenntnis, Lehre und Tradition festzuhalten und auch positiv dazu zu stehen, statt sich ständig für die kirchliche Lehre zu entschuldigen. Liturgie und Gottesdienst sind nach wie vor für die Kerngemeinde der ureigenste Ort der Begegnung mit Gott in Wort und Sakrament. Wenn hier häufig nur noch Predigten zu politischen Themen zu hören sind, ist das auf Dauer gefährlich. Es geht nicht nur um die Rettung der ohnehin vergänglichen Welt, sondern vor allem um das ewige Seelenheil der Menschen.

In der katholischen Kirche wurde noch nie soviel gepredigt wie heute: Auch in Werktagsmessen halten die meisten Zelebranten einen Impuls. Dennoch leeren sich die Kirchen. Warum?

Die Predigt ist sehr wichtig, aber eben auch eine große theologische Kunst und kein Selbstläufer. Ich finde zum Beispiel Predigten abschreckend, in denen nur noch über Klimawandel und Flüchtlingsthematik gepredigt wird und Christus kaum mehr vorkommt. Das alles sind wichtige Fragen, zu denen sich die Kirchen in Verlautbarungen, Enzykliken und Dokumenten sinnvoll äußern. Aber es wäre wichtig, dass Predigten wieder stärker mit ihrer geistlichen Botschaft den Menschen persönlich ansprechen, statt nur allgemeine moralisierende Appelle für politisches Handeln und die Weltrettung auszugeben. Es geht darum, nicht sich selbst oder Politik zu predigen, sondern den Herrn Jesus Christus. Es ist natürlich bequemer, gegen den Klimawandel zu predigen und dafür die richtige Haltung einzuklagen als sehr konkret gegen die Auflösung der Familie, gegen Habgier und Neid.

Was macht die gute Predigt aus?

Vieles im Bereich der Predigthilfen ist mir da mittlerweile intellektuell zu abgehoben vom Leben normaler Menschen und Gemeindeglieder. Da haben manche Autoren wohl vor allem die Welt ihrer Universitätsgottesdienste und ihrer Milieus vor Augen. Zu viel spielt sich da auf einer sehr elitären Ebene ab bis hin zu Gedichten, die zitiert werden und mit denen der ganz normale Gottesdienstbesucher nichts bis wenig anfangen kann. Eine gottesdienstliche betende Gemeinde ist kein Literatursalon. Vieles kreist allzu oft nur um den Menschen in seiner Selbstwahrnehmung und bietet vor allem Seelenmassage statt Seelenheil. Das gehört zwar dazu, aber das Reich Gottes und der Anspruch Gottes an uns bleibt dabei viel zu oft außen vor und unausgesprochen aus Angst anzuecken. Ich erwarte mir von Predigten auch nicht nur die Wiederholung medial verbreiteter Kirchenkritik, sondern eine geistliche Auslegung der Heiligen Schrift, ein klares Bekenntnis zur kirchlichen Lehre, klare Orientierung, keine exegetischen Vorträge auf der Kanzel, sondern eine klare Verkündigung des Willens Gottes für die ganze Welt, aber auch jeden Menschen. Aufgabe eines Predigers ist es nicht, den Menschen nach dem Mund zu reden, sondern das Wort Gottes vom Heil im gekreuzigten und auferstandenen Christus zu verkündigen. Popularität ist kein Maßstab für christliche Prediger. Natürlich soll das einladend und in einer allgemeinverständlichen Sprache geschehen.

Was bestärkt Sie in der Hoffnung, auf Liturgie und Verkündigung zu setzen, sei der richtige Weg? Warum die Abgrenzung vom Zeitgeist, während Reforminitiativen zeitgleich auf gesellschaftliche Anschlussfähigkeit setzen?

Es ginge unseren Kirchen in Deutschland besser, wenn wir weniger Sitzungen und Gremien und dafür mehr Gottesdienste und Bibelabende hätten. Die Kirche ist keine Partei, kein Verein oder Debattierclub. Die gefährliche Verlockung ist es, Applaus bei denen zu erheischen, die sich eigentlich die Kirchen und uns Christen sparen wollen. In der Kirche sollten vor allem Christokratie und Theokratie herrschen. Gerade über die Lehre der Kirche kann nicht demokratisch entschieden werden, um sich dem Zeitgeist anzudienen. Der ist bekanntlich auch sehr wankelmütig.

Ist die Sorge moderner Theologen, von den Menschen nicht mehr verstanden zu werden, aus Ihrer Sicht nachvollziehbar und begründet?

Diese Sorge ist nachvollziehbar und berechtigt. Es gibt aber auch bei den Modernen oder Postmodernen manchen theologischen und pastoralen Jargon, der die Menschen nicht mehr erreicht. Natürlich muss die christliche Botschaft in einer Sprache vermittelt und ausgerichtet werden, die die Menschen verstehen. Oft jedoch wird mit diesem Argument die Axt an die Botschaft selbst gelegt, um diese gefälliger zu machen.

„Auftrag und Wahrheit“ ist eine missionarische Initiative. Welcher Mentalität wollen Sie in Akademiker-/Theologenkreisen entgegenwirken, damit Mission wieder ernster genommen wird?

Das universitäre und akademische Milieu ist massiv geprägt von Multikulti-Ideen, von Kritik an Mission und dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens. Hier können und wollen wir durchaus einen Kontrapunkt setzen. Die Mission ist die Grundaufgabe der Kirche: Menschen und Völker zu Gott führen. Das natürlich „non vi, sed verbo“, nicht durch Gewalt, sondern durch das Wort. Und die Wahrheit ist in Christus offenbart. Umso wichtiger ist die Predigt, um das zu vermitteln.

Eine ökumenische Initiative ohne kirchenpolitische Ambitionen ist in Deutschland ungewöhnlich. Warum können Sie mit dem Lehramt der Katholiken und Orthodoxen leben und verzichten darauf, Forderungen aufzustellen?

Die theologischen Trennungslinien verlaufen heute schon lange nicht mehr zwischen den Kirchen, sondern kirchenübergreifend zwischen den Strömungen. Wobei der strukturell weltweit pulverisierte Protestantismus natürlich leider nicht in der Klarheit wahrnehmbar ist wie die katholische Kirche mit ihrem Lehramt und die orthodoxe Kirche. Ich fühle mich „konservativen“ romtreuen Katholiken viel näher als den heute bestimmenden liberalen Strömungen in meiner eigenen Kirche.

Ein Beispiel?

In Deutschland fokussieren sich ökumenische Initiativen häufig auf kirchenpolitische Forderungen. Ein Lieblingsthema ist das gemeinsame Abendmahl. Dabei werden Grundsätze ausgeblendet: eucharistische Gemeinschaft ist immer auch Bekenntnisgemeinschaft. Am deutschen Wesen kann auch in dieser Frage nicht die Welt genesen. Ich habe zehn Jahre in Rumänien gelebt zum Studium, zum Forschen für meine Doktorarbeit und als Leiter der Evangelischen Akademie Siebenbürgen. Wir hatten dort viele ökumenische Begegnungen mit gemeinsamen Gottesdiensten, Andachten und Gebeten. Dort käme niemand auf die Idee, ein gemeinsames Abendmahl zu fordern. Jeder empfängt die Kommunion in seiner Kirche, bevor wir noch nicht die volle Kirchengemeinschaft haben. Außerhalb Deutschlands werden solche Fragen viel klarer gesehen. Ich persönlich habe mit dem katholischen Lehramt überhaupt keine Probleme. Es ist ein wichtiges Korrektiv für Fehlentwicklungen. Und ich lese keinen Theologen so gerne wie Joseph Ratzinger. Auch seine Dokumente aus der Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation halte ich für Normtheologie.

 

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