Mythen

Diese Irrtümer verbreitet der Geschichtsunterricht

Die Erde des Mittelalters war flach. Oder? Wie diese und andere Lügen in unsere Geschichtsschulbücher geraten, und was Eltern dagegen tun können.
Handlungsanweisung: "Zeichne dieses Bild von der Erde als Scheibe fertig und male es an."
Foto: Bernhard | „Aufgaben für schlaue Köpfe“, heißt es in einem österreichischen Schulbuch. Dazu gibt es die Handlungsanweisung: „Zeichne dieses Bild von der Erde als Scheibe fertig und male es an.“ Der linke ...

Die Vorstellung, dass die Menschen im Mittelalter an eine flache Erde glaubten, ist einer der am weitesten verbreiteten Irrtümer des Geschichtsunterrichts. Das konnte man bereits 1951 in einer wissenschaftlichen Publikation der renommierten Historical Association des Vereinigten Königreiches lesen. Seitdem sind 70 Jahre vergangen. Dennoch feiert die völlig unwissenschaftliche Vorstellung, das Mittelalter sei von einer flachen Erde ausgegangen, heute fröhliche Urstände in aktuellen deutschen und österreichischen Geschichtsschulbüchern. Zum Entsetzen der Historiker.

Der „Mythos der flachen Erde“ wird in unseren Schulbüchern auf vielen Seiten und mit abenteuerlichen Argumenten zelebriert und in die Köpfe von Millionen Kindern gepflanzt: Dem mittelalterlichen Weltbild zufolge sei „die Erde eine auf dem Ozean schwimmende Scheibe“ gewesen, weshalb die Seeleute Angst hatten „zu weit aufs offene Meer hinauszufahren und vom Rand der Scheibe hinabzustürzen“, steht in einem weit verbreiteten deutschen Schulbuch des 21. Jahrhunderts zu lesen.

Wanderer am Weltenrand

Nicht nur das. Viele weitere „Argumente“ sind in Schulbüchern anzutreffen: Zum Erstaunen und Entsetzen seiner Zeitgenossen hätte Kolumbus durch seine abenteuerliche Fahrt bewiesen, dass die Erde rund ist, mittelalterliche Weltkarten würden dagegen die Vorstellung einer flachen Erde belegen. Der berühmte „Wanderer am Weltenrand“ zeige eindrücklich die mittelalterlichen Vorstellungen von der Form der Erde. Das wird behauptet, obwohl wir seit den 1970er Jahren wissen, dass das Bild aus dem Ende des 19. Jahrhundert stammt und daher nichts mit dem Mittelalter zu tun haben kann. Überhaupt habe die katholische Kirche, so lesen wir in Schulbüchern, mit aller Kraft die am Beginn der Neuzeit sich entwickelnde Erkenntnis einer runden Erde bekämpft, was dann bisweilen mit der Verurteilung von Galileo Galilei 1630 – mehr als 100 Jahre nach der Umrundung der Erde durch Magellan – belegt sein will. Doch der Fall Galilei hatte nichts, wirklich gar nichts mit der Form der Erde zu tun, sondern drehte sich um die Frage, ob die Erde oder die Sonne im Mittelpunkt des Universums steht.

Dies sind die Thesen, die deutsche und österreichische Schüler über Geschichtsschulbücher und damit auch im Geschichtsunterricht vermittelt bekommen. Diese Erzählung darf wohl als der am weitesten verbreitete Geschichtsmythos des 20. und 21. Jahrhunderts bezeichnet werden. Jede einzelne der oben erwähnten Behauptungen, die den Mythos stützen, hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Nur ganz langsam setzt sich diese Erkenntnis unter den Geschichtslehrkräften und den Schulbuchautoren durch, obwohl Historiker seit Jahrzehnten gegen den Mythos der flachen Erde Sturm laufen. Fast erfolglos, denn – so meine These – die Erzählung ist viel zu schön (im Sinne von eingängig) und zu gut im Unterricht inszenierbar, als dass man sie aufgeben mag.

Eine kugelförmige Masse

Doch die Menschen des Mittelalters glaubten nicht an eine flache Erde, dazu gibt es nach intensivem Quellenstudium einen Konsens in der historischen Forschung. Päpste, Kirchenväter, Theologen, Philosophen und Könige des lateinischen Mittelalters, die in ihren Werken über die Form der Erde geschrieben haben, beschrieben sie alle als rund. Niemals war die Idee einer flachen Erde Lehre der katholischen Kirche, wie oft behauptet wird. So hat beispielsweise der Kirchenvater Augustinus, der als Begründer der christlichen Philosophie bezeichnet wird, die Erde im 5. Jahrhundert als „kugelförmige Masse“ beschrieben. Bischof Adam von Bremen wunderte sich im 11. Jahrhundert über die „Heiden“, die im Zusammenhang mit der Deutung einiger Naturphänomene die Kugelgestalt der Erde nicht berücksichtigen würden.

Der Reichsapfel war ein Indiz für die runde Welt

Die berühmte heilige Hildegard von Bingen beschreibt in einem Buch im 12. Jahrhundert die Erde als eine „sandige Erdkugel“ und lässt eine entsprechende Abbildung abdrucken. Der einflussreichste Theologe aller Zeiten, Thomas von Aquin, schreibt im 13. Jahrhundert in seiner Summa Theologica lapidar: „Der Astrologe belegt durch Sonnen- und Mondfinsternis, dass die Erde rund ist.“ Für jedes Jahrhundert des Mittelalters ließen sich zahlreiche weitere Quellen anführen.

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Jedes Kind kennt die Darstellung des Kaisers mit dem Reichsapfel, einer kleinen Kugel mit einem Kreuz darauf. Dieser Reichsapfel war ein Symbol für die Erdkugel. Seit dem 11. Jahrhundert übergab der Papst den Reichsapfel an den Kaiser feierlich und öffentlich bei der Kaiserkrönung. In manchen deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern wird der Reichsapfel auch abgebildet, und so werden sich sicher schon einige kritisch denkende Schüler die Frage gestellt haben: Wie kann gerade der Papst dem Kaiser mitten im Mittelalter eine Erdkugel übergeben, wenn im Mittelalter alle an eine flache Erde glaubten? Eine korrekte Antwort auf diese Frage hilft sicher, das heute mehr denn je notwendige kritische Denken der Heranwachsenden zu schulen.

Keine dumpfen Geschichtsmythen verbreiten

In einer Zeit, die so stark von Fake News und Verschwörungstheorien geprägt ist, sollte wenigstens das Schulbuch keine dumpfen Geschichtsmythen verbreiten und damit dazu beitragen, dass den „offiziellen Deutungen“ noch weniger Vertrauen geschenkt wird, denn dies fördert Populismus. Eltern sollten ihre Kinder dazu erziehen, weit verbreitete historische Darstellungen kritisch zu hinterfragen. Insbesondere wenn es um die Geschichte der frühen Neuzeit oder um die Geschichte der Kirche geht, schwirren zahlreiche Mythen durch die Diskursarena.

In meinem Dissertationsprojekt, das ich von 2009 bis 2012 in Kooperation mit dem Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung durchgeführt habe, wollten wir herausfinden, seit wann der Mythos der flachen Erde in deutschen und österreichischen Schulbüchern vorhanden ist. Wir suchten dazu Sammlungen jahrhundertealter Lehrwerke auf und analysierten unzählige Schulbücher der vergangenen 300 Jahre. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Die Idee, dass die Menschen im Mittelalter an eine flache Erde glaubten, hat sich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts in unseren Schulbüchern durchgesetzt. Zuvor lastete man dem Mittelalter in unseren Breiten in Schulbüchern noch kaum eine flache Erde an.

Wissenschaftsfeindliche Fanatiker

Woher kommt dieser Mythos? Wer hat ihn so weit in der Gesellschaft verbreitet? Die Entstehung der Idee der mittelalterlichen Erdscheibe wird von Historikern mit einer semifiktionalen Kolumbus-Biographie des Bestsellerautors Washington Irving aus dem Jahr 1828 in Verbindung gebracht: „The Life and Voyages of Christopher Columbus“. Irving beschreibt in diesem Buch, wie Kolumbus seine Pläne zum Erreichen Indiens über den Westweg vor einer Kommission der Universität Salamanca vorstellt. Wohlgemerkt, Salamanca war die Universität der führenden Wissenschaftler des 16. Jahrhunderts und könnte mit dem heutigen Oxford oder Cambridge verglichen werden. Irving stellt die Vertreter der Kommission allerdings in einem ganz anderen Licht dar: als wissenschaftsfeindliche Fanatiker und Vertreter eines angeblich finsteren Mittelalters, die dem genialen und als Wissenschaftler gezeichneten Kolumbus eine Häresie vorwerfen.

Die Kirche unterstützte die Astronomie

Das Treffen mit dieser Kommission fand 1486 tatsächlich statt. Die Kommission förderte die Pläne von Kolumbus nicht. Nur haben – ganz im Gegensatz zu Irvings Ausführungen – die vermeintlich rückständigen Gelehrten Kolumbus auf einen Rechenfehler hingewiesen. Die Entfernung zwischen Spanien und Japan war nämlich vier Mal so lange, wie Kolumbus es berechnet hatte. Wäre nicht zufällig Amerika zwischen Asien und Europa gelegen, hätten die Vorräte von Kolumbus nicht ausgereicht und er wäre mit Sicherheit irgendwo in den Weiten des Pazifik verschollen. Studien zeigten, dass sich nach der Veröffentlichung von Irvings semifiktionalen Bestseller die Idee von der flachen Erde des Mittelalters weit verbreitete und auch in US-amerikanische Schulbücher langsam Eingang fand. Im 20. Jahrhundert wurde der Mythos der flachen Erde aus amerikanischen Schulbüchern wieder entfernt, da in den USA Schulbuchpublikationen gemeinhin eine intensive fachwissenschaftliche Begutachtung vorausgeht, was in Deutschland und Österreich (offensichtlich) nicht der Fall ist.

Nach der Publikation von Irvings Buch wurde die Idee der flachen Erde des Mittelalters für zahlreiche Kollektive des 19. und 20. Jahrhunderts identitätsstiftend. Antiklerikale Kirchenkritiker wie Andrew Dickson White und John William Draper nutzten die Idee, um am Ende des 19. Jahrhunderts die „Konfliktthese“ zu propagieren, die Vorstellung, dass Wissenschaft und Religion nicht vereinbar seien. Draper spricht sogar von einem kirchlichen „Dogma der flachen Erde“. In der Kontroverse um die Evolutionstheorie Darwins wurde die These als Argument herangezogen, dass sich die Kirche seit jeher dem Fortschritt in der Wissenschaft entgegengestellt habe. Dies ungeachtet der Tatsache, dass Christen, ihrem Glauben und ihren Institutionen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der modernen Wissenschaft zukommt, worauf der Oxforder Wissenschaftshistoriker John Heilbron hinwies. So leistete die katholische Kirche in der Zeit von der Spätantike bis zu Aufklärung im 18. Jahrhundert mehr finanzielle und soziale Unterstützung für astronomische Studien als jede andere Institution – möglicherweise mehr als alle anderen Institutionen zusammen.

Behaims Globus

Neben anderen Gruppen, für die der Mythos der flachen Erde identitätsstiftend war, griffen auch die Nationalsozialisten das Thema gerne auf. Es ließ sich mit Martin Behaim nämlich ein Deutscher, der angeblich im Jahr 1492 den ersten Erdglobus geschaffen habe, als einer der Überwinder der mittelalterlichen Erdscheibe positionieren. So war in einem SS-Leitheft aus dem Jahr 1940 über Martin Behaim zu lesen: „Ohne ihn säßen wir heute noch nicht in Indien. Ohne ihn vielleicht auch kein Christoph Kolumbus, ohne ihn bestimmt kein Kugelbild der Erde, kein Globus. Ach Behaim!“ Doch Behaims Globus war gar nicht der erste. Er ist nur das älteste bis heute erhaltene Exemplar. Adolf Hitler, der den Behaimschen Globus teilweise aus eigener Tasche bezahlt kaufte und ihn dann dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg vermachte, kam der Mythos der flachen Erde für Propagandazwecke nur recht.

Initiative ergreifen

So wurde die Geschichte von der flachen Erde für unterschiedliche Kollektive im 19. und 20. Jahrhundert eine identitätsstiftende Erzählung. Sie wurde daher häufig wiederholt, fand Eingang in zahlreiche Bücher, Serien, Filme und – wie gezeigt – sogar in unsere Schulbücher. Auf diese Weise entwickelte sie sich zum wahrscheinlich größten Geschichtsmythos der Gegenwart, den schon die meisten Grundschulkinder für wahr halten. Es scheint, dass die zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen zu dem Thema kaum gegen die Macht dieses Mythos ankommen. Wie lange werden Schulbuchverlage und Schulbuchautoren noch jahrzehntealte fachwissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren können? Hilfreich wäre sicherlich, wenn Eltern selbst die Initiative ergreifen und sich direkt bei den Verlagen über die Mythen in den Schulbüchern beschweren würden.

Der Autor ist Professor für Schulentwicklung an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/ Krems. Er hat sich im Bereich Geschichtsdidaktik und Politische Bildung an der Universität Salzburg habilitiert und war von 2018 bis 2020 Gastforscher an der der Universität Oxford.

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