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Wahrheit, Lüge und Desinformation im Krieg

Die Hoheit über die Verbreitung von Informationen zu erlangen und zu behalten, ist als Kriegsziel heute mindestens so wichtig wie die Lufthoheit über feindlichem Gebiet. Als erlaubt gilt, was den eigenen Zielen nützt.
Krieg und Medien
Foto: Roman Pilipey (EPA) | 'The Face of War' der ukrainischen Künstlerin Daria Marchenko.

"Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit." So lautet ein Zitat, das heute offenbar in keinem Beitrag fehlen darf, der sich mit der Medienberichterstattung im Krieg beschäftigt. Dabei ist nicht einmal sein Autor zweifelsfrei geklärt. Während die einen das Bonmot dem britischen Unterhaus-Abgeordneten Arthur Ponsonby (1871-1946) zuschreiben, schwören andere, sein Urheber sei der US-amerikanische Senator Hiram Johnson (1866-1945). Wieder andere geben als Quelle den britischen Schriftsteller Rudyard Kipling (1865-1936), Großbritanniens Premierminister Winston Churchill (1874-1965) oder gar den griechischen Dichter Aischylos (525-456 v. Chr.) an.

Sicher ist: Die Entdeckung, dass Täuschungen, Desinformationen und Lügen zur Munition im Krieg gehören, ist keine neuzeitliche. Schon der chinesische General, Militärstratege und Philosoph Sunzi (544-486 v. Chr.) hielt in "Die Kunst des Krieges" fest: "Jede Kriegsführung gründet auf Täuschung. Wenn wir also fähig sind anzugreifen, müssen wir unfähig erscheinen; wenn wir unsere Streitkräfte einsetzen, müssen wir inaktiv scheinen; wenn wir nahe sind, müssen wir den Feind glauben machen, dass wir weit entfernt sind; wenn wir entfernt sind, müssen wir ihn glauben machen, dass wir nahe sind."

Oft fußen Kriege auf einer einzigen Lüge

Oft fußen ganze Kriege auf einer einzigen Lüge. Etwa auf der, dass in der UkraineNeonazis die Macht ergriffen hätten und die Bevölkerung terrorisierten. Oder - wie im März 2003 - darauf, der Irak sei im Besitz von chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen. 2005 gab der im vergangenen Jahr verstorbene ehemalige US-Außenminister Colin Powell zu, dass die "Beweise", die er am 5. Februar 2003 dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen für die Existenz mobiler Biowaffenlabors des Iraks vorlegte, nie existiert hatten. Hitler rechtfertigte in seiner Reichstagsrede vom 1. September 1939 den Überfall auf Polen gar mit einem von der SS inszenierten Angriff auf den Rundfunksender Gleiwitz.

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Der Grund für derart dreiste Lügen liegt auf der Hand. Trivial ist er nicht: In Kriegen sterben Menschen. Oft auf entsetzliche, bisweilen auf bestialische Weise. Nicht vereinzelt, sondern wie die Fliegen, zu Tausenden und Hunderttausenden. Kriege produzieren menschliche Dramen am Fließband. Mütter verlieren ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Kinder ihre Väter. Von den aus dem Krieg Heimgekehrten, von denen viele durch das Erlebte oder Getane für den Rest ihres Lebens traumatisiert sind, ganz zu schweigen. Klar, dass da der Wunsch nach dem Einsammeln ehemals russischer Erde oder nach einem Regimewechsel im Nahen Osten von niemandem als hinreichende Begründung angesehen wird.

Anfang Mai strahlte das ZDF in seiner sechsteiligen Reihe "Lüge und Wahrheit" die Dokumentation "Krieg - Die Macht der Information" aus. Der sehenswerte Film von John Kantara, Thomas Langelage und Lewis Cohen beleuchtet anhand zahlreicher Bespiele, wie die Mächtigen Propaganda einsetzen, um Gründe und Ziele von Kriegen zu verschleiern, die Bevölkerung von der Ehrenhaftigkeit des eigenen Handelns zu überzeugen, Feinde zu täuschen und ihre Moral zu schwächen.

Um derartige Propaganda zu verbreiten, bedienen sich die Kämpfenden immer auch den Medien ihrer Zeit. Im Dreißigjährige Krieg (1618-1648) etwa, verbreiteten die kriegsführenden Parteien ihre Propaganda erstmals auch mittels illustrierter Flugblätter, die von Postreitern im Land verteilt wurden. Ein Beispiel: Als der Schwedenkönig Gustav Adolf im November 1632 mit 38 Jahren in der Schlacht bei Lützen fiel, verbreiteten Protestanten Flugblätter, mit der Lüge, der Schwede, der ein Jahr zuvor ein Heer der katholischen Liga unter ihrem General Johann T'Serclaes von Tilly (1559-1632) in der Schlacht bei Breitenstein vernichtend geschlagen hatte, lebe noch.

In Windeseile wurde Propaganda verbreitet

Eine neue Ära der Kriegsführung wie auch der Propaganda ermöglichte die Entwicklung des Schreibtelegrafen durch Samuel F.B. Morse (1791-1872), die sein Bruder Sidney als "die größte Entwicklung aller Zeiten" feierte. Im US-amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), in dem mehr als 600.000 Menschen ihr Leben verloren, verlegten Soldaten der Union und der Konföderierten rund 15.000 Meilen Telegrafendraht, um strategische Vorteile aus der schnellen Nachrichtenübertragung zu ziehen. In Windeseile verbreitet wurden über den Draht jedoch nicht nur die Befehle der Nord- und Südstaaten-Generäle, sondern auch die Propaganda, mit der der Gegner verteufelt wurde. So dichteten etwa die Südstaaten der Nordstaatenarmee Vergewaltigungen und Massaker an der Zivilbevölkerung an.

Der erste Krieg, den alle Kriegsparteien auch als "Medienschlacht" führten, ist nach Ansicht von Historikern jedoch der Erste Weltkrieg. "Nie zuvor und kaum jemals danach, ist so viel und so dreist gelogen worden wie zwischen 1914 und 1918", schreibt der Historiker Frank Werner in der Wochenzeitung "Die Zeit". Erstmals sei in ihm die "Propaganda zur entscheidenden Waffe - und die Lüge zu ihrer schärfsten Munition" geworden. Und das vom ersten Tag an. "Beide Seiten richten Propagandabüros ein, die Lügen soufflieren, die Presse wetteifert mit erfundenen Sensationen, und das nationalistisch entflammte Publikum glaubt nur zu gerne, was ihm vorgesetzt wird".

Im Zweiten Weltkrieg (1939-1945) traf dann der "Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda", Joseph Goebbels, mit der Wehrmacht eine Vereinbarung, die lautete: "Der Propagandakrieg wird als wesentliches, dem Waffenkrieg gleichrangiges Kriegsmittel anerkannt." Als Mittel der Wahl galt Goebbels dabei vor allem das Radio. Der Chefpropagandist der Nazis hielt den Hörfunk für das "allermodernste" und "allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument". In einer Rede, die er 1939 vor den Intendanten des Reichsrundfunks hielt, befand Goebbels unter anderem: "Das Volk mit dieser Gewissheit und dieser Gesinnung bis in die letzte Faser zu durchtränken - die Menschen so lange zu hämmern und zu feilen und zu meißeln, bis sie uns verfallen sind: das ist eine der Hauptaufgaben des Deutschen Rundfunks."

Vietnam: Der unzensierte Krieg

Der Vietnamkrieg (1955-1975), der ersten TV-Krieg, der live in die Wohnzimmer übertragen wurde, wird gern auch als der einzige "unzensierte Krieg" bezeichnet. Journalisten konnten sich im gesamten Kriegsgebiet frei bewegen und dankten dies der US-Regierung zunächst mit einer weitgehend patriotisch gesinnten Berichterstattung. Das änderte sich jedoch, als "New York Times" und "Washington Post" 1971 Teile einer geheimen Studie des US-Verteidigungsministeriums veröffentlichten, aus der hervorging, dass die Regierung unter US-Präsident Lyndon B. Johnson (1908-1973) den Kongress und die Öffentlichkeit fortgesetzt und systematisch über den Kriegsverlauf und seine Gründe belogen hatte.

Der Dritte Golfkrieg, der am 20. März 2003 begann und bereits nach 43 Tagen von US-Präsident George W. Bush für siegreich beendet erklärt wurde, gilt als erster "Informationskrieg". In ihm hätten die US-Streitkräfte, so der ZDF-Korrespondent Ulrich Tilgner, der als Kriegsberichterstatter in Bagdad war, "Information, Desinformation und Nichtinformation zu einer neuen Waffengattung gemacht". Nach Ansicht des 2020 verstorbenen Militärexperten und Friedensforschers Otfried Nassauer ist die "Oberhoheit über Informationen" für die neue Form der Kriegführung mindestens so wichtig wie die Erringung der "Lufthoheit" über feindlichem Gebiet. Die anvisierte "Information-Dominanz" umfasse nicht nur "überlegenes Wissen über Gegner, Risiken, potenzielle Ziele, die Wirkung eingesetzter Waffen", sondern werde auch "bei der Begründung und Rechtfertigung von Kriegen und bei ihrer Außendarstellung gegenüber der Weltöffentlichkeit angestrebt".

Seit 2014 bedienen sich Kriegsführenden dabei auch der "Sozialen Medien". Wie die sich nutzen lassen, demonstrierte erstmals der "Islamische Staat" (IS). Anfang Juni 2014 stehen seine Kämpfer vor Mossul. Bevor sie die Millionenmetropole erreichen, bricht unter den Verteidigern Panik aus. 60.000 legen ihre Waffen nieder und fliehen. Dabei verfügte der IS lediglich über 1.500 Kämpfer. "Das war eine zusammengewürfelte Truppe. Sie hatten umgebaute Pick-up-Trucks und gebrauchte Kalaschnikows. Aber sie hatten ihre eigene Social Media-Armee, samt eigenem Hashtag: ,All Eyes on ISIS ", erklärt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Emerson T. Brooking. In den Sozialen Netzwerken hatte der IS Videos von Hinrichtungen gepostet, die "millionenfach" geteilt, auch die Bevölkerung von Mossul erreichten. "Durch die Terrorpropaganda hatten die Verteidiger allen Grund zu glauben, dass ihnen keine Gnade gewährt wird und Flucht ihre einzige Chance ist", so Brooking.

Soziale Netze spielen wichtige Rolle

Soziale Netzwerke spielen auch im gegenwärtigen Krieg eine wichtige Rolle. Sowohl die Ukraine als auch Russland nutzen sie, um für Unterstützung der eigenen Ziele zu werben und den Gegner zu dämonisieren. In dem 2016 im "The Atlantic" publizierten Essay "War goes viral" beschreiben Brooking und der Militärhistoriker Peter W. Singer die "russischen Trollfabriken" so: In den Sozialen Medien unterhalte Russland "ein riesiges digitales Netzwerk von Bloggern und bezahlten Kommentaren, von denen sich viele überhaupt nicht als Russen ausgeben." Ihren Zorn auf sich zu ziehen, sei "erstaunlich einfach": "Posten Sie einfach etwas Unfreundliches in Bezug auf die russische Position auf der Krim oder den Abschuss von Flug 17 der Malaysia Airlines über der Ukraine im Jahr 2014 und Sie werden feststellen, dass Sie beleidigende Nachrichten von Leuten erhalten, die Sie nie getroffen haben, sowie Freundschaftsanfragen von mysteriösen Dessous-Models, die darauf erpicht sind, Ihre Meinung zu ändern." Hinter den gefälschten Konten steckten oftmals "junge, aufstrebende Schriftsteller", die in 12-Stunden-Schichten in "abgedunkelten Bürogebäuden in den Vororten von Moskau und St. Petersburg" arbeiteten. Diese stellten Dutzende von Online-Profilen her, um Desinformationen verbreiteten.

Es gibt gute Gründe, der Kriegsberichterstattung von Medien mit Vorsicht und Skepsis zu begegnen. Doch wer meint, in den Sozialen Medien sei er vor gelenkten Informationen und Zensur sicher, der trifft eine schlechte Wahl

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