Das Gastland der diesjährigen Buchmesse und das Heimatland des soeben gekürten Literaturnobelpreisträgers László Krasznahorkai: so fern sich die Philippinen und Ungarn geografisch sein mögen, der Katholizismus ist ihre große, kulturell-historische Klammer. Fast 40 Prozent der Ungarn sind katholisch, auf den Philippinen sind es fast 80. So verwundert es nicht, dass sich sowohl im Werk Krasnoharkais als auch in einigen der aktuell 44 deutschen Übersetzungen philippinischer Literatur reiche Bezüge zu Spiritualität und Glaube, Religion und Kirche finden.
„Fantasie beseelt die Luft“ – dieses poetische Motto haben sich die Philippinen für ihren Gastauftritt bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse (15.-19. Oktober 2025) gewählt. Mittlerweile kommen die Gastländer nicht mehr ausschließlich mit ihren literarischen Erzeugnissen nach Deutschland, sie haben zusätzlich ein umfangreiches Kulturprogramm im Gepäck, das allerdings nur lokal begrenzt zugänglich ist. Die Bücher hingegen öffnen sich jedem interessierten Leser, und das Interesse lohnt immer – gerade bei weit entfernten Ländern, die sich nicht so ohne weiteres für Fernreise und Urlaub anbieten.
Die Autoren arbeiten die bewegte Vergangenheit der Philippinen auf
Die 7641 philippinischen Inseln blicken zurück auf eine wechselvolle Kolonialgeschichte, deren verschiedene Einflüsse bis heute vorherrschen. War die vorkoloniale Zeit noch bestimmt vom Buddhismus und dem Islam, begann 1565 mit der spanischen Kolonialherrschaft die Christianisierung der philippinischen Bevölkerung, die noch immer weitgehend katholisch ist. Interessanterweise ist die Amtssprache aber nicht spanisch, sondern englisch, was der amerikanischen Kolonialisierung nach dem Philippinisch-Amerikanischen Krieg 1902 geschuldet ist. Offiziell wird auch Filipino gesprochen in der hauptstädtischen Tagalog-Version. 1942 wurden die Philippinen von den Japanern besetzt, bis zur Rückeroberung durch die Amerikaner 1944 unter General Douglas MacArthur. 1946 wurde das Land zwar in die Unabhängigkeit entlassen, unterliegt jedoch weiterhin dem Einfluss der USA. Von 1965 – 1986 regierte Ferdinand E. Marcos das Land, ab 1972 diktatorisch. Heute regiert sein Sohn...
Die philippinische Luft – sie wird nicht nur von Fantasie beseelt. Auch die aktuellen Romane setzen sich in irgendeiner Form mit der Vergangenheit auseinander, die das Leben der Menschen sozial und spirituell durchdringt.
Katrina Tuvera lässt in „Die Kollaborateure“ den im Sterben liegenden Carlos Armando sein Leben Revue passieren, während (wir schreiben das Ende des 20. Jahrhunderts) die Nation das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Estrada verfolgt. Carlos, Jahrgang 1930, erinnert sich an seine Kindheit auf dem Land unter japanischer Besatzung im 2. Weltkrieg, an sein Engagement für die Liberalen nach der Unabhängigkeit und, beeinflusst von seinem besten Freund Damiano, seinen Wechsel zu den Nationalisten unter Marcos (dem ehemaligen Liberalen), in dessen Partei er Karriere macht. Damiano stirbt bei einem Attentat, und Carlos fühlt sich um seine Ideale betrogen. Die spannende Geschichte um Desillusionierung, Verrat, Korrumpierbarkeit und die Mechanismen der Macht wird aus vier Perspektiven erzählt: von Carlos, seiner Frau Renata, seiner Tochter Brynn und Damianos Sohn Jacob. Man versteht: das sind keine Probleme, die sich auf die Philippinen beschränken lassen.
„Überreste“: Nach dem Taifun
Lualhati Bautista (1945-2023) gilt als die bedeutendste Autorin zeitgenössischer philippinischer Literatur. Sie schrieb auf Tagalog, der Umgangssprache der Stadt Manila. Ihr Roman „Die 70er“ erschien zuerst 1983 und liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor. Die gesellschaftlichen Unruhen der 1970er Jahre sind auch auf den Philippinen zu spüren, der Vietnamkrieg, das unter Marcos verhängte Kriegsrecht und die Proteste im eigenen Land bringen Amanda, die mit Ehemann und fünf Söhnen in einer sicherheitshalber eingezäunten Mittelklassesiedlung in Manila lebt, zum Nachdenken über die Zusammenhänge zwischen politischem Engagement und privatem Dasein, zumal einer ihrer Söhne im Untergrund verschwindet. Sie lernt, sich ihrer Stärke bewusst zu werden, indem sie sich den Gegebenheiten stellt: unter Lebensgefahr steht sie ihrer Familie zur Seite. Das ist ein durchaus feministischer Roman über die Auswirkungen globaler Bewegungen auf die speziellen damaligen Lebensbedingungen in Manila, und ein starkes Manifest für die Familie und ihren Zusammenhalt in bedrohlichen Zeiten.

Daryll Delgado erzählt in ihrem herausragenden Roman „Überreste“ von den Folgen des Taifuns Haiyan, der im November 2013 auf die Philippinen traf. Ann kehrt im Auftrag einer NGO in ihre völlig zerstörte Heimatstadt zurück, um für ein Forschungsprojekt herauszufinden, welche Erinnerungen den Menschen bleiben, deren Existenz vernichtet ist, und wird von der eigenen Erinnerung an ihre Kindheit überrollt. Gekonnt verknüpft die Autorin die reale Katastrophe mit persönlichen familiären Konstellationen. Und wir erfahren von der orthodoxen Tradition des „40-Tage-Gedenkens“: „Die ersten 9 Tage nach der Beerdigung und dann wieder 40 Tage (sowie 1 Jahr) nach dem Tod werden nach philippinischem katholischen Ritus Rosenkränze gebetet, um den Verstorbenen den Übergang von dieser in die nächste Welt zu erleichtern. Während der 40 Tage streifen die Verstorbenen zwischen Himmel und Erde umher, auf der Suche nach einem sicheren Hafen, bis sie am 40. Tag den Körper endgültig verlassen und in den Himmel eingehen.“
Jessica Zafras unterhaltsamer Roman „Ein ziemlich böses Mädchen“ spielt in den 1980er/90er Jahren. Siony muss für sich und ihre Tochter Guadeloupe allein aufkommen, nachdem ihr Mann sie verlassen hat und arbeitet für eine Oberschichtsfamilie, die von ihren Kochkünsten so begeistert ist, dass sie fest eingestellt wird und mit der Tochter auf dem Anwesen wohnen darf. Die Teenagertochter, die eigentlich überhaupt kein „böses“ Mädchen ist, entwickelt einen scharfen sezierenden Blick auf die sie umgebende Welt einer Elite, zu der sie nie gehören wird. Satirisch und doch liebevoll öffnet uns die Autorin das Tor zu einem unbekannten Kosmos, der durchsetzt ist von einer wilden Mischung aus Religion und animistischem Aberglauben.
Transzendenzverweis bleibt Zeichen großer Literatur
F. (Francisco) Sionil José (1924-2022), eines der beiden „Schwergewichte“ der philippinischen Literatur, befasste sich in seinen Werken vor allem mit Beziehungen, den Klassenkämpfen seines Landes und dem Kolonialismus. Er galt lange als Kandidat für den Literaturnobelpreis. „Der Flüchtling“ versammelt 14 Kurzgeschichten aus seiner langjährigen Schaffensperiode, die von subtiler Könnerschaft zeugen, von Weisheit und einer tiefen Liebe zu armen und benachteiligten Menschen.
José Rizal (1861-1896), der philippinische Nationalheld, war Arzt, Schriftsteller und ein leidenschaftlicher gewaltloser Verfechter der philippinischen Unabhängigkeit. Er studierte Medizin und Philosophie in Madrid, Paris und Heidelberg. 1892 kehrte er auf die Philippinen zurück. Mit seinem Roman „Noli me tangere“ erzürnte er die spanische Kolonialherrschaft dermaßen, dass er 1896 hingerichtet wurde.
Die spanischen Kolonialherren am Pranger
„Noli me tangere“, auf spanisch geschrieben, erschien erstmals 1887 in der Berliner Buchdruckerei-Actien-Gesellschaft. Der Titel bezieht sich auf das Johannes-Evangelium, und was Rizal hier „anrührte“, waren die unhaltbaren Zustände in seinem Land, über die niemand sprechen durfte. Wie Rizal selbst, geht es um den aus Europa zurückgekehrten Ibarra, der in seiner Heimatstadt eine Schule bauen will und sich dem Kampf gegen Korruption, Unterdrückung und religiösen Dogmatismus verschreibt. Es geht ihm nicht nur um das Fehlverhalten einzelner Ordensangehöriger, es geht auch und vor allem um die spanische Kolonialherrschaft: „(...) sehen wir einmal ab von der Geschichte, fragen wir uns nicht, wie Spanien mit dem Volk der Juden verfuhr, das Europa ein Buch, eine Religion und einen Gott gegeben hat; was es mit den Mauren tat, die ihm Kultur gebracht, die gegen seine Religion Toleranz geübt und seinen darniederliegenden Nationalstolz geweckt haben (...)“. „(...) Ist das das Gebot Jesu Christi? Dafür brauchte sich kein Gott kreuzigen zu lassen (...)“. Es geht nicht gut, auch seine große Liebesgeschichte mit Clara fällt den Umständen zum Opfer – als hätte José Rizal sein Schicksal vorhergesehen. Es ist ein großartiger, aus seiner Zeit heraus entstandener Roman, der seinen Autor das Leben kostete.
„Was ist denn Literatur anderes als erinnerter Schmerz?“ (F. Sionil José) Ein neutestamentliches Passionsbild, das fast Motto sein könnte für das diesjährige, nur scheinbar entlegene Gastland. Und ein Zitat des zwar kirchenfernen, doch gläubigen ungarischen Nobelpreisträgers László Krasznahorkai schafft die Verbindung ins nahe Ungarn: “Das Wesentliche ist, was du in deinem Herzen trägst, der Gott beobachtet es und sieht es und weiß alles ganz genau.“ Der Transzendenzverweis - er bleibt das Kennzeichen großer Kunst.
Katrina Tuvera: Die Kollaborateure, übersetzt von Jan Karsten, Wagenbach Verlag 2025, 192 Seiten, 22,- €
Lualhati Bautista: Die 70er, übersetzt von Annette Hug, Orlanda Verlag 2025, 224 Seiten, 22,- €
Daryll Delgado: Überreste, übersetzt von Gabriele Haefs, Kröner 2025, 304 Seiten, 25,- €
Jessica Zafra: Ein ziemlich böses Mädchen, übersetzt von Niko Fröba, TRANSIT Buchverlag 2025, 144 Seiten, 20,- €
F. Sionil José: Der Flüchtling. Stories, übersetzt von Guido Keller, Angkor Verlag 2025, 332 Seiten, 15,- €
José Rizal: Noli me tangere, übersetzt von Annemarie del Cueto-Mörth, Insel Verlag 2025, 542 Seiten, 28,- €
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