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„Vielleicht sollte man mal ,Weniger für Dich’ auf ein Plakat schreiben“

Wie wäre es, den Bürgern die Realität zuzumuten? Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer kritisiert die politische Kommunikation. Das geplante Schuldenpaket begrüßt er aber. Ein Gespräch anlässlich seines Auftritts auf dem Kongress Christlicher Führungskräfte in Karlsruhe.
Boris Palmer auf dem KCF
Foto: IDEA/Schmitt | Immer für eine pointierte Einschätzung gut: Boris Palmer spricht auf dem Kongress Christlicher Führungskräfte zum Thema "Zukunft gestalten".

Herr Palmer, Sie haben in den letzten Monaten immer wieder vor einer finanziellen Überforderung der Kommunen gewarnt. Jetzt sollen die Geldschleusen geöffnet werden, auch die Länder gehen nicht leer aus. Hilft das den Gemeinden?

Das glaube ich nicht. So kenne ich Bund und Länder nicht, dass die an uns denken, ohne dass wir intensiv auf uns aufmerksam machen. Ich fürchte, da wird man für die Koalitionsverhandlungen noch deutlich machen müssen, dass es auch in den Kommunen ganz erhebliche Investitionsrückstände gibt und es nicht genügt, wenn Bund und Länder sich Freiräume schaffen.

Was halten Sie denn insgesamt von den neuen Verschuldungsplänen?

Die Schuldenbremse-Debatte ist in letzter Zeit nur noch dogmatisch geführt worden. Das halte ich meistens für falsch. Also entweder ist man für Schuldenbremse pur, und nichts daran wird geändert, die Lindner-Position. Oder die Schuldenbremse muss weg, weil sie verhindert, dass Deutschland seine Aufgaben bewältigen kann. Ich glaube, dass der Mittelweg, der jetzt vorgeschlagen wird, genau richtig ist. Warum? Die Schuldenbremse soll sicherstellen, dass wir heutigen Konsum nicht auf Kosten künftiger Generationen finanzieren, also Schulden für Sozialausgaben machen. Das wird sie auch weiterhin tun, denn der Kern des Mechanismus wird nicht angerührt. Man darf auch in Zukunft nicht einfach Schulden machen, um gegenwärtige Ausgaben zu finanzieren. Aber für zwei wesentliche Bereiche gibt es Ausnahmen. Einmal für Verteidigung: Man kann einfach nicht darüber hinwegsehen, dass wir eine einsatzfähige Bundeswehr brauchen und derzeit nicht haben und dass das viel Geld kostet. Und das andere ist Sanierung und Modernisierung der Infrastruktur. Die braucht es auch, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, denn wenn zwischen zwei Betrieben keine Brücke mehr steht, funktioniert die Transportkette halt nicht. Das sind also zwei Bereiche, in denen ich Schulden für vertretbar halte, insbesondere weil der Schuldenstand in Deutschland im internationalen Vergleich sehr niedrig ist. Ich glaube es ist gut, dass die beiden möglichen Koalitionspartner den großen Wurf wagen. Und dass wir unsere Sicherheit und Zukunft jetzt wieder selbst in die Hand nehmen wollen, macht mir durchaus Mut. Das sind große Weichenstellungen, die man der Politik so vielleicht bis vor kurzem gar nicht zugetraut hätte.

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Sie sprechen heute auf dem „Kongress Christlicher Führungskräfte“ zum Thema „Zukunft gestalten“. Verteidigung und Infrastruktur, sind das denn die Themen der Zukunft? Oder fehlt da noch etwas?

Mir ganz persönlich ist der Klimaschutz weiterhin ein zentrales Anliegen. Das ist eine Daueraufgabe von globaler Bedeutung, die jetzt angesichts dringender und kurzfristig aufgetretener Gefahren leider in den Hintergrund geraten ist. Trotzdem bin ich durchaus optimistisch. Wir haben mittlerweile einen solchen Hochlauf der erneuerbaren Energien, dass der wohl nicht mehr zu stoppen ist und unser Hauptproblem, nämlich die Verbrennung fossiler Energie, in wenigen Jahrzehnten lösen wird. Zu spät natürlich, wir werden erstmal zu hohe Temperaturen auf der Erde erleben. Aber das Problem an sich werden wir in den nächsten Jahrzehnten in den Griff bekommen.

Was ist mit dem Thema künstliche Intelligenz?

Ich habe schon den Eindruck, dass wir hier an der Schwelle zu einer großen Revolution stehen. Meine Sorge ist dabei, was aus Europa wird, wenn wir durch Überregulierung den Anschluss verlieren und nachher diese Technologie von globalen Konzernen aus China und den USA dominiert wird. Dann sind wir am Ende ein abhängiger Vasallenstaat, weil man ohne künstliche Intelligenz im Wettbewerb gar nicht mehr wird mithalten können. Wir haben ja schon jetzt keinerlei große Plattformanbieter, kein Amazon, kein Facebook, kein Google, nichts. Wenn wir da dann auch auf Gedeih und Verderb amerikanischen Konzernen ausgeliefert sind, dann möchte ich nicht wissen, wie sich das auswirkt, wenn die Trump-Bewegung weiter an der Macht bleiben sollte. Da kann ich mir Szenen im Weißen Haus vorstellen, die mit europäischen Staatschefs ungefähr so schön aussehen, wie die gerade mit Selenskyi. Und am Ende steht die Unterwerfung auf Twitter, weil man keine realen Alternativen mehr hat. Also werden die Rohstoffe aus der Ukraine dann doch verkauft. Sollen wir das als Europa insgesamt machen? Ich glaube, wir brauchen da wirklich eine eigene Antwort.

Das Infrastrukturpaket und die Ausnahme der Verteidigung von der Schuldenbremse, das wird ja als eine Art Antwort, ja als Notfallmaßnahme dargestellt. Ist das die neue politische Normalität – es wird nur noch reagiert, proaktive Gestaltung fällt flach?

Die letzten Jahre waren von Krisen geprägt, die ich jedenfalls nicht vorausgesehen habe, weder die Pandemie, noch den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Krisen, die ich nicht vorhersehen kann, kann ich natürlich auch nicht präventiv bearbeiten. Mit den Entwicklungen im Weißen Haus scheint aktuell die Planungssicherheit komplett verloren gegangen zu sein. Niemand kann wirklich ausrechnen, was am nächsten Tag passiert. Ich würde mir jetzt auch wünschen, vor die Lage zu kommen, sehe dafür aber wenig Chancen.

Nicht alle Krisen sind unabsehbar…

Richtig. Leider handeln wir bei diesen aber auch nicht proaktiv. Statt sich zum Beispiel auf den demographischen Wandel einzustellen und die sozialen Sicherungssysteme krisenfest zu machen, Rücklagen zu bilden, hat man in den letzten zehn Jahren sogar noch zusätzliche Leistungen in Gesetzesform gegossen und das Geld mit vollen Händen ausgegeben, das jetzt eigentlich benötigt würde, um den Ruhestand der Babyboomer zu finanzieren. Es ist auch nicht dafür vorgesorgt worden, wie das Gesundheitssystem mit der steigenden Belastung, die automatisch mit einer großen Zahl von älteren Menschen einhergeht, klarkommen soll. Dass wir uns nicht auf solche absehbaren Krisen vorbereiten, scheint das eigentliche Problem der Politik zu sein. Wir denken zu kurzfristig. Vielleicht nicht nur in der Politik, sondern in der Gesellschaft insgesamt.

Tatsächlich ist die demographische Krise ja seit den 70er Jahren absehbar. Aber wir scheinen den Status Quo doch ganz gern zu haben. Die SPD hat bereits angekündigt, auf „stabile“ Renten pochen zu wollen. Was würden Sie denen entgegnen, die sich jetzt etwa einer Rentenreform verwehren?

Der Karneval ist ja gerade vorbei. Und die Jecken haben ja das Motto „Ist ja nochmal gutgegangen“. Ich würde empfehlen, jetzt mal die Welt anzugucken, ob man mit diesem Grundvertrauen wirklich weitermachen kann. Ich glaube nicht. Es sieht einfach nicht danach aus, dass es von selber gut geht. Meiner Meinung nach ist es höchste Zeit, sich am Riemen zu reißen, sich anzustrengen und die Augen aufzumachen, ernsthaft auf die Probleme einzugehen. Man muss den Menschen Realismus abverlangen. Das tut die Politik zu wenig. Der letzte Wahlkampf war geprägt davon, wer die größten Steuersenkungsversprechungen macht. Da hat die FDP die Union überboten und die AfD hat die Union überboten und die SPD hat plakatiert „Mehr für Dich“. Vielleicht sollte man mal „Weniger für Dich“ auf ein Plakat schreiben. So wie John F. Kennedy gesagt hat: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag was du für dein Land tun kannst.“ Eine Sprache zu finden, die den Realitätssinn anspricht und die Mitwirkungsbereitschaft, das würde mir jetzt wirklich angemessen erscheinen.

Haben Sie eine persönliche Vision für eine zukunftsfähige Gesellschaft?

Ich hatte solche Visionen, aber im Moment gerade fehlt mir dafür wirklich die Kraft. Auch ich bin in erster Linie mit Krisenmanagement beschäftigt. Ich muss gerade jeden Tag Diskussionen darüber führen, welche Leistungen der Stadt wir streichen oder verteuern. Und während ich vor ein paar Jahren noch die Vision eines perfekt ausgebauten Stadtbusverkehrs hatte, der elektrisch fährt, haben wir jetzt die Beschaffung von Elektrobussen storniert, nicht von allen, aber von einigen, und wir streichen ganze Buslinien. Das ist nicht die Zeit, in der man sich mit Visionen beschäftigt. Erstmal muss die Lage stabilisiert werden. Das ist die Voraussetzung dafür, wieder über Visionen sprechen zu können.

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