Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung UKRAINISCHES TAGEBUCH – Teil 4

„Unsere Leute halten zusammen“

Ohne Hilfe aus dem Westen wäre ihre Heimat „den Russen ausgeliefert“, warnt eine russischsprachige Frau aus Charkiw. Im katholischen Marienwallfahrtsort Sarwanyzja finden auch Orthodoxe ihren Frieden.
Die Basilika von Sarwanyzja
Foto: Stephan Baier | Die Basilika von Sarwanyzja ist das größte Pilgerziel der ukrainischen Katholiken des byzantinischen Ritus. Corona und der Krieg haben die Pilgerströme zum Erliegen gebracht, aber die Kirche nimmt großherzig ...

Immer wieder werde von außen versucht, die Ukraine zu spalten, sagt der dynamische Pater Andrij beim Frühstück nach der Göttlichen Liturgie. „Aber unsere Leute halten zusammen!“ Hier in Sarwanyzja, dem bedeutendsten Marienwallfahrtsort der Ukraine, nahe Ternopil, wird das sichtbar. 150 Flüchtlinge aus dem Osten des Landes hat die Wallfahrtsstätte ungeachtet ihrer Konfession aufgenommen und versorgt sie – kostenlos selbstverständlich – seit vielen Monaten. Eine Lehrerin aus Kramatorsk erzählt mir von den ersten Tagen der Invasion. Die russischen Truppen hätten nicht nur ganz bewusst Schulen und Wohnhäuser beschossen, sondern sogar die Evakuierungszüge. Nur die Alten seien in Kramatorsk geblieben, alle anderen flüchteten.

Eine neue Glaubenswelt entdeckt

Sie und ihr Mann, ein pensionierter Stahlarbeiter mit entsprechendem Händedruck, wurden von den Priestern in Sarwanyzja herzlich aufgenommen und rundum versorgt. Sie selbst hat auch eine neue Glaubenswelt entdeckt: „Bei uns im Osten sind die Leute von der Kirche weit entfernt. Manche gehen nur einmal im Jahr in die Kirche. Hier ist das ganz anders.“ In diesem Marienwallfahrtsort der griechisch-katholischen Kirche seien stets viele Beter. Die spirituelle Atmosphäre und auch der hiesige Kreuzweg haben sie sehr berührt. „Wir kannten das alles nicht“, sagt sie mit feuchten Augen.

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Einen Kreuzweg durchleidet das ganze Land heute. Seit einem knappen Jahr unter russischem Beschuss und teilweiser Besetzung leben die Menschen im ständigen Ausnahmezustand. Eine junge Frau, die mit dem dreijährigen Sohn auf dem Schoß Russisch spricht, erzählt, wie sie nach zehn Tagen ohne Strom und in ständiger Angst endlich aus ihrer Heimatstadt Charkiw fliehen konnte. Beim Abschied beschwört sie mich: „Ohne Hilfe aus dem Westen können wir nicht überleben! Wir wären den Russen ausgeliefert.“

An die Herzlichkeit, die sie in Sarwanyzja, einem Dorf von etwa hundert Häusern und 14 Priestern, erfuhr – und an die Stille – musste sie sich erst gewöhnen, sagt sie. Pater Andrij klärt mich auf: Die orthodoxen Priester des Moskauer Patriarchats seien für die einfachen Menschen oft unzugänglich, eher hoheitlich und distanziert. Die griechisch-katholischen Priester dagegen wirken mitten unter den Menschen. Für viele Flüchtlinge aus dem Osten des Landes ist das eine ganz neue Erfahrung.

Die Kirche triumphierte über den Kommunismus

Pater Andrij führt uns in die menschenleere Basilika, zeigt uns eine Nachbildung des Hauses Mariens von Loretto, die Pfarrkirche mit der vielverehrten Marienikone und vieles mehr. Als 1740 die Kirche abbrannte, blieb die wundertätige Ikone unversehrt; als die Kommunisten brutal gegen die Wallfahrt vorgingen, war sie plötzlich verschwunden – und tauchte erst nach der Befreiung vom Sowjetkommunismus wieder auf, eingemauert in einen Kaminschacht.

Die wundertätige Marienikone von Sarwanyzja
Foto: Stephan Baier | Die wundertätige Marienikone von Sarwanyzja war in der kommunistischen Zeit einfach verschwunden. Nach der Wiedererlangung der Freiheit tauchte sie wieder auf. Auch Papst Johannes Paul II. verehrte diese Ikone.

Erinnerungen werden wach: 1991 war ich zum ersten Mal in Sarwanyzja, im Gefolge von Großerzbischof Myroslav Ivan Lubachivsky, der in jenem Jahr nach Jahrzehnten des Exils triumphal in die Ukraine heimkehrte. Auf dem holprigen Weg von Lemberg nach Sarwanyzja sperrten damals die Menschen in vielen Dörfern die Straße ab: Ihr Patriarch müsse zu ihnen sprechen und sie alle segnen, forderten sie. Wir kamen mit vielen Stunden Verspätung in den damals noch wüsten Wallfahrtsort, wo Zehntausende frierend im Freien warteten.

Niemand konnte nach 44 Jahren im Untergrund wissen, wie viele Menschen der griechisch-katholischen Kirche überhaupt treu geblieben waren. „Manche schätzten uns auf ein paar Hundert oder Tausend, aber es zeigte sich sogleich eine Millionen-Kirche“, erinnert sich ein in Lemberg aufgewachsener Priester im Gespräch. Stalin hatte die katholischen Ukrainer offenbar falsch eingeschätzt, als er 1946 ansetzte, ihre Kirche zu zerschlagen. Wie Putin heute.

Eine Wallfahrt im Winterschlaf

1991 zelebrierte der Großerzbischof auf regennasser Wiese, seither hat sich der Wallfahrtsort grandios entwickelt. Eineinhalb Millionen Pilger kamen vor der Corona-Pandemie pro Jahr hierher. Darunter auch immer wieder orthodoxe Gruppen und Priester, die hier in ökumenischer Gastfreundschaft eingeladen werden, zu zelebrieren. Corona hat den Wallfahrtsort leergefegt. Auf 600.000 Pilger hofft der Rektor in diesem Jahr. Mir begegnen keine Pilger, stattdessen dankbare Flüchtlinge, die von den Patres schwärmen.

Pater Andrij
Foto: Stephan Baier | Pater Andrij führt mich durch die Basilika von Sarwanyzja. Am Ende segnet er uns mit einer Reliquie.

Viel zu viel gibt es in dem Wallfahrtsort Sarwanyzja zu sehen und zu hören. Als wir endlich Richtung Kiew aufbrechen, segnet uns Pater Andrij mit den Reliquien jener griechisch-katholischen Märtyrer, die 1874 von den zaristischen Truppen hingerichtet wurden, weil sie sich weigerten, orthodox zu werden. Mit fester Stimme sagt er: „Gott segne Euch – und der Ukraine schenke er den Sieg!“


Begleiten Sie unseren Korrespondenten Stephan Baier in den kommenden Tagen auf seiner Reise durch die Ukraine. Alle Folgen des Ukrainischen Tagebuchs finden Sie hier.

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