Im Grunde genommen scheinen sie sich gern zu haben: Diesen Eindruck konnte man nach der TV-Debatte zwischen den US-Vizepräsidentschaftskandidaten, J.D. Vance und Tim Walz, durchaus gewinnen. Derart zivilisiert, fast sogar höflich gingen sie miteinander um, dass man sich die Augen reiben musste.
Der einleitende Satz, man stimme dem anderen in diesem oder jenem Punkt zu, fiel wohl schon lange nicht mehr so häufig wie in dem Austausch am Dienstagabend. Das Wort „Schlagabtausch“ wäre daher völlig deplatziert. Am Ende kamen auch noch die Ehefrauen zum freundlichen Plausch auf die Bühne des „CBS Broadcasting Center“ in New York City. Man konnte glatt vergessen, dass die Chefs der Kontrahenten, Donald Trump und Kamala Harris, mit beispiellos unversöhnlicher Rhetorik um das höchste Staatsamt konkurrieren.
Smart, souverän, rhetorisch geschliffen
Der Anstand und gegenseitige Respekt können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Republikaner Vance seinem demokratischen Gegenspieler Walz unter dem Strich den Schneid abkaufte. Das lag weniger am Inhalt seiner Aussagen, sondern am smarten, souveränen Auftreten des 40-Jährigen. Zudem präsentierte sich Vance rhetorisch geschliffener als Walz, der auch in seiner Mimik eher an den netten, etwas tollpatschigen Onkel von nebenan erinnerte, weniger an den nächsten Vizepräsidenten.
Angriffsfläche hätten beide geboten, doch Vance gelang es häufiger, Walz in die Enge zu treiben, etwa bei den Themen Migration, gestiegenen Preisen und – tatsächlich – Abtreibung: Denn Walz konnte oder wollte auch auf Vances Drängen hin nicht plausibel erklären, warum ein äußerst lockeres Abtreibungsgesetz, das der 60-Jährige als Gouverneur in seinem Heimatstaat Minnesota unterzeichnet hatte, doch nicht so extrem sei wie Abtreibungsgegner behaupten, und Neugeborenen, die eine Abtreibung überleben, die notwendige medizinische Versorgung versage.
Vance - das freundliche Gesicht der Republikaner
Nur einmal schaffte es Walz, Vance in ähnliche Bedrängnis zu bringen: Da ging es um Trumps Lüge von der gestohlenen Präsidentschaftswahl 2020 und den Aufstand in Washington am 6. Januar 2021. Hier wollte sich Vance nicht von Trumps Narrativ distanzieren und versuchte es vergeblich mit einem abrupten Themenwechsel. Alles in allem ließ Walz jedoch einige Chancen liegen, die Republikaner bloßzustellen. Insbesondere deren drastische Rhetorik in der Migrationsfrage sowie die erfundenen Geschichten über Migranten aus Haiti, die in Ohio Haustiere essen würden, sprach er kaum an.
So hatte Vance am Ende leichtes Spiel, seine umfassendere Erfahrung auf offener Bühne auszuspielen – und als gesittetes Gesicht des republikanischen Kandidatenduos auch an unentschlossene Wechselwähler zu appellieren. Und die dürften das Kopf-an-Kopf-Rennen um das Weiße Haus im November entscheiden.
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