Wer sich als Katholik Gedanken darüber macht, wie er die Zeit im Fegefeuer verkürzen kann, dem kann die Lektüre der 50-seitigen Stellungnahme „Schwangerschaftsabbruch – Ein theologisch-ethischer Diskussionsbeitrag der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Debatte um den § 218 StGB“ wärmstens ans Herz gelegt werden. Auch sonst hat dessen Lektüre einige Vorzüge. Wer etwa meint, berechtigt Anstoß an dem nehmen zu müssen, was zuweilen aus dem Vatikan verlautet, wird schon nach wenigen Seiten feststellen, auf was für einem hohen Niveau er eigentlich jammert. Andererseits scheint eine Warnung durchaus angebracht. Denn wer es tatsächlich fertigbringt, das Papier bis zur letzten Zeile zu lesen, dürfte hernach so manchen Flagellanten in den Schatten gestellt haben.
Das Papier ist eine intellektuelle Zumutung, wie sie der Autor dieser Zeilen in nunmehr 30 Berufsjahren selten erlebt hat. Die Argumentation fuße, wie seine Autoren in der vorangestellten Zusammenfassung schreiben, auf „der Überzeugung, dass der Schwangerschaftskonflikt aus der Kollision zweier unvereinbarer Ansprüche“ entstehe, in denen „Christinnen und Christen jeweils ein göttliches Gebot sehen“ könnten: „Dem Anspruch des ungeborenen Lebens, zur Welt gebracht zu werden“ stünden „die Ansprüche und Verpflichtungen gegenüber, die die Lebensführung an die betroffene Frau“ stelle. Als da wären: „berufliche Verpflichtungen, soziale und psychische Notlagen, familiäre Pflichten oder die Sorge, den Ansprüchen eines zukünftigen Kindes nicht gerecht werden zu können“.
Gott – ein teuflischer Sadist?
Wir lesen: Der Gott der Autoren muss entweder ziemlich schizophren oder aber ein teuflischer Sadist sein. Gebote zu erlassen und die Welt so einzurichten, dass diese miteinander kollidieren und dazu führen, dass seine Geschöpfe, wenn sie dem einem folgen, notwendig gegen das andere verstoßen. Hat also am Ende der ehemalige TV-Pastor Jürgen Fliege Recht, der Gott einen „Gangster“ nannte? Aber es kommt noch schlimmer: „Aus dieser Kollision“ entstehe „für die Schwangere ein unauflösbarer Konflikt, da sie sich nicht in der Lage sieht, beiden Ansprüchen und Verpflichtungen zugleich zu folgen“. Die evangelische Kirche anerkenne „diesen Konflikt als unauflösbar“ und lehne „eine einseitige Privilegierung einer der beiden Ansprüche ab“.
Wir fragen: Was gewinnt eigentlich ein „unauflösbarer Konflikt“, wenn er von der evangelischen Kirche als unauflösbarer „anerkannt“ wird? Wird er dadurch vielleicht noch unauflösbarer? Und was haben all die Schwangeren falsch gemacht, die im vergangenen Jahr 692.989 Kinder zur Welt gebracht haben? Wussten Sie nicht, dass sie sich in einem „unauflösbaren Konflikt“ befanden? Haben Sie ihre „berufliche Verpflichtungen, soziale und psychische Notlagen, familiäre Pflichten oder die Sorge, den Ansprüchen eines zukünftigen Kindes nicht gerecht werden zu können“, einfach ignoriert? Nun, wir wissen es nicht. Was wir wissen: Ganz offensichtlich war es ihnen egal, dass die evangelische Kirche eine „einseitige Privilegierung“ der an sie gestellten Ansprüche ablehnt.
„Verantwortete Freiheit“ und andere Worthülsen
Deswegen dürfte es sie wohl auch kaum interessieren, dass die „evangelische Kirche“, „ausgehend von der Schöpfungslehre“ die „besondere Rolle der Schwangeren bei der Weitergabe des Lebens“ hervorhebt und – was für eine Überraschung – feststellt: „Gottes Ruf ins Leben kann nur mit der Hilfe einer Frau Realität werden.“ Und weiter: Diese Mitwirkung am Schöpfungsauftrag bringe es mit sich, „dass die Frau die Entscheidung für oder gegen ein Kind letztlich nur alleine in verantworteter Freiheit treffen kann und treffen muss“.
Aber war nicht die Jungfrauengeburt ein singuläres Ergebnis in der Menschheitsgeschichte? Und sprach nicht sogar die junge Frau, die den Sohn Gottes gebar, nicht zunächst ihr „fiat“, bevor der Heilige Geist „über sie“ kam und die „Kraft des Höchsten“ sie überschattete? Muss also nicht – außer im Falle einer Vergewaltigung – davon ausgegangen werden, dass eine Frau, die schwanger wird, sich dazu entweder „in verantworteter Freiheit“ entschieden hat, oder es im Falle einer ungewollten Schwangerschaft mit der „verantworteten Freiheit“ nicht allzu weit her sein kann? Spielt es überhaupt keine Rolle, dass eine Frau ohnehin nur binnen weniger Tage im Menstruationszyklus schwanger werden kann? Müsste sich eine „verantwortete Freiheit“, nicht dazu verhalten, um kein bloßes Wortgeklingel zu sein?
Ethische Orientierung? Fehlanzeige
Dass die evangelische Kirche sich weigert, Paaren ethische Orientierung in Sachen Sexualmoral zu geben, muss allein sie verantworten. Wer danach sucht, kann sie andernorts finden. An diesbezüglich hervorragenden Angeboten herrscht, nicht zuletzt, dank der katholischen Kirche und der „Theologie des Leibes“ Papst Johannes Paul II. kein Mangel. Dass sie aber ihren Gläubigen nahelegt, die vorgeburtliche Kindstötung als etwas zu betrachten, zu dem sie in „verantworteter Freiheit“ Ja sagen könnten, oder als ethisch zulässige Variante der „Mitwirkung am Schöpfungsauftrag“, ist etwas ganz anders. Das ist nicht nur nicht mit dem Grundgesetz unvereinbar, es spottet auch der Schöpfungslehre, der zufolge der Mensch Ebenbild Gottes ist, wie dem göttlichen Gebot „Du sollst nicht töten“.
Auch sonst wartet das Papier mit allerlei unerträglichen Formulierungen und falschen Vorstellungen auf. Anders als die Autoren des Papiers behaupten, gibt es zum Beispiel kein „werdendes Leben“. Etwas lebt oder lebt nicht. Zwischen Leben und Tod, gibt es kein Drittes. Und obwohl die Autoren offensichtlich nur der Schwangeren zugestehen, Person zu sein, muss auch der Embryo als solche betrachtet werden. Denn nur Personen können jene Eigenschaften hervorbringen, aufgrund derer wir sie als Personen erkennen. Oder um es einfacher und mit Robert Spaemann zu sagen: „Person wird man nicht. Person ist man oder ist es nicht“.
Ferner gilt: Der Embryo ist mitnichten Teil des Organismus der Frau, wäre es so, wäre ja auch nur der Organismus einer Schwangeren ein kompletter. Vorher und nachher würde diesem etwas fehlen. Richtig ist stattdessen: Im Organismus der Schwangeren entwickelt sich ein eigenständiger Organismus und differenziert sich dort so lange aus, bis er für seine weitere Entwicklung ein anderes Umfeld benötigt. Oder um aus einem Brief zu zitieren, den 30 Frauenärzte jetzt an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages richteten: „Selbst-Bestimmung bezieht sich auf die eigene Person. Der Fetus ist zeitlich begrenzt zwar abhängig vom mütterlichen Organismus, aber er ist nicht Teil des mütterlichen Organismus.“
„Ich bin so froh, dass ich nicht evangelisch bin“
Die Absicht des Papiers, die Tötung eines unschuldigen und wehrlosen Kindes im Mutterleib moralisch zu legitimieren, ist unabweisbar und geradezu mit den Händen zu greifen. Dazu dienen den Autoren zum Beispiel das Gegenüberstellen „des Anspruchs“ des Embryos und „der Ansprüche“ der Schwangeren an „ihr eigenes Leben“ sowie des „werdenden Lebens“ mit der „Person der Schwangeren“. Mit keiner Silbe wird erwähnt, dass es den Embryo gar nicht gäbe, wenn er nicht zuvor von der Schwangeren und ihrem Partner gezeugt worden wäre. Kein Gedanke wird daran verschwendet, dass Staat und Gesellschaft, Menschen für ihre Taten verantwortlich halten müssen. Und natürlich fragt man sich, wenn die Tötung eines wehrlosen und unschuldigen Kindes im Mutterleib, verantwortet und ethisch gerechtfertigt werden kann, weil man nur so den „Ansprüchen“ an das „eigene Leben“ gerecht zu werden können glaubt, warum dann nicht auch Steuerhinterziehung, Raubüberfall oder gar die Beseitigung pflegebedürftiger Angehöriger.
Fazit: Wer als Katholik meint, er habe allen Grund an seiner Kirche zu leiden oder gar zu verzweifeln, dem kann man nach Lektüre dieses Papiers mit ruhigem Gewissen – einen Karnevalsschlager des Komödianten und Satirikers Jürgen Becker abwandelnd – zurufen: „Sei froh, dass Du nicht evangelisch bist.“
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