Mit 27 Jahren wurde Charlène ungewollt schwanger. Ihr damaliger Partner geriet in Panik und drängte sie zu einer Abtreibung. Die Französin wollte das Kind behalten, doch bei der Planned-Parenthood-Beratungsstelle fand sie keine Unterstützung. Als sie zögerte, wurde ihr gesagt, sie dürfe „nicht von einem Baby sprechen“, es handle sich nur um „einen Zellhaufen“. Die Psychologin von Planned Parenthood vereinbarte schließlich sogar einen Termin zur Abtreibung – „für alle Fälle“. Charlène wehrte sich lange, verweigerte die vorbereitenden Medikamente. Am Ende gab sie dem Druck der Psychologin, der Ärzte und ihres Freundes nach. Nur Wochen später trennte sie sich von ihrem Partner, fiel in eine tiefe Depression und kämpfte sich nur mühsam ins Leben zurück. Heute hat Charlène wieder eine Familie. Doch vergessen lässt sich das Erlebte nicht. „Man kann nur lernen, damit zu leben“, so die junge Frau. Ihr Appell an die europäische Politik: „Schützt die Rechte der Frau gegen Druck und Zwang! Schafft echte Alternativen!“
Ein Vormittag im Europäischen Parlament
Charlène ist eine von fünf Frauen, die an diesem Mittwoch im Europäischen Parlament ihre Geschichte erzählen. Allen ist gemeinsam, dass sie in einem der entscheidendsten Momente ihres Lebens alleingelassen wurden. Auch Nirvana gehört dazu, eine junge Niederländerin, die während ihres Vortrags immer wieder weint. Alleinerziehende Mutter dreier Kinder von unterschiedlichen Vätern, die ihre einzige Abtreibung bitterlich bereut, die Tag und Nacht arbeitet, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu schenken. Sie erzählt von ihrer Angst, es nicht zu schaffen, von der Wut über die Ungerechtigkeit, dass sie viel zu oft die Sorgen um die Kinder alleine tragen muss. Und von ihrer Dankbarkeit gegenüber jener Hilfsorganisation für Schwangere in Not, die ihr den Mut und die finanziellen Mittel gegeben hat, ihr drittes Kind zu bekommen, trotz allem.
„Real choice means real support“ ist der Titel der Veranstaltung in Brüssel: Echte Wahl(freiheit) setzt echte Unterstützung voraus. Das Ziel: Hilfe für Schwangere in Not in ganz Europa zu einer Priorität zu machen. Der Sitzungssaal ist mit fast 300 Personen aus über 20 Ländern voll besetzt. Vor allem junge Gesichter füllen die Reihen. Gekommen sind sie auf Einladung der europäischen NGO One of Us, Gastgeber sind die Europaabgeordneten Peter Agius (Malta) von der Europäischen Volkspartei (EPP) sowie der 31-jährige Paolo Inselvini (Italien) und Laurence Trochu (Frankreich) aus der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer.
Größte Europäische Bürgerinitiative aller Zeiten
„One of Us“ startete als europäische Bürgerinitiative, die 2014 mit der Unterstützung von fast zwei Millionen Unterschriften europäischer Bürger die Europäische Kommission aufforderte, die finanzielle Förderung von Abtreibung und Embryonenforschung einzustellen. Obwohl keine andere Europäische Bürgerinitiative vorher oder nachher auch nur annähernd so viele Stimmen sammeln konnte, lehnte die Europäische Kommission das Anliegen von One of Us damals ab. Seitdem ist aus der Initiative ein Dachverband von Lebensrechtsorganisationen aus ganz Europa geworden, der auf europäischer Ebene den Schutz des Lebensrechts und der Menschenwürde von der Zeugung an einfordert – ein politischer „Dauerbrenner“.
Der Anlass für diesen Tag ist sehr konkret: Denn vor einigen Monaten sammelte eine andere Bürgerinitiative mit 1,2 Millionen Unterschriften genügend Unterstützung, um selbst die Europäische Kommission zu einem neuen Gesetz aufzufordern. Was „My Voice My Choice“ durchsetzen will, verstößt nach Auffassung von One of Us aber nicht nur gegen die unveräußerliche Menschenwürde, sondern auch die europäischen Verträge. Denn My Voice My Choice fordert die EU dazu auf, sichere und zugängliche Abtreibungen für Frauen zu finanzieren, die in ihren eigenen Ländern aufgrund der jeweiligen Gesetzgebung keine solche erhalten können.
Europäische Kommission darf keinen Abtreibungstourismus unterstützen
„Abtreibungstourismus“ nennt One-of-Us-Präsident Tonio Borg das in seiner Eröffnungsrede. Der frühere EU-Gesundheitskommissar aus Malta nimmt kein Blatt vor den Mund: „Diese Initiative verstößt gegen das Subsidiaritätsprinzip, denn gemäß den europäischen Verträgen kann jeder Mitgliedstaat selbst entscheiden, wie er mit Dingen wie Mutterschaft, Sterbehilfe und Abtreibung umgeht.“
Nach Auffassung der versammelten Redner – neben den bereits genannten auch weitere Europaabgeordnete wie die Slovakin Miriam Lexmann (EPP), die Spanierin Isabel Benjumea (EPP) und die Italienerin Antonella Sberna (ECR) – geht es nicht an, dass die Europäische Kommission einer solchen Finanzierung zustimmt, mit deren Hilfe Bürgerinnen etwa von Malta oder Polen die Gesetzgebung ihres eigenen Landes umgehen können. Und erst recht nicht, dass die betreffenden Länder gezwungen sein könnten, über einen europäischen Verteilungsmechanismus etwas zu finanzieren, das in ihren eigenen Ländern illegal ist.
Die Bürgerinitiative My Voice My Choice kann sich ihrerseits auf die EU-Bestimmungen zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung berufen, aufgrund derer EU-Bürger das Recht auf Zugang zu „Gesundheitsdienstleistungen“ in jedem EU-Land und auf Erstattung der Kosten einer im Ausland erhaltenen Versorgung in ihrem Heimatland haben. My Voice My Choice wartet auch gar nicht passiv darauf, dass die Europäische Kommission Antwort gibt, sondern leistet der eigenen Sache auch über das Europäische Parlament Vorschub: Am vergangenen Montag war die „Frontfrau“ der Organisation, die Slowenin Nika Kovač, zu Gast im Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (FEMM). Von einer internen Quelle erfuhr „Die Tagespost“, dass schon in der November-Plenarsitzung des Europäischen Parlaments ein Beschluss zur Unterstützung von My Voice My Choice zur Abstimmung gebracht werden soll. Beschlüsse des Europäischen Parlaments entfalten zwar keine rechtliche Wirkung, schaffen aber einen gewissen Druck auf die anderen europäischen Institutionen. Schließlich ist das Parlament die europäische Institution, die direkt von den EU-Bürgern gewählt wird.
ALfA und Stiftung Ja zum Leben gehören dazu
Zu den Gründungsmitgliedern von One of Us gehören aus Deutschland die Stiftung Ja zum Leben und die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA). Im Gespräch mit der „Tagespost“ erinnert die ALfA-Vorsitzende Kaminski daran, dass „My Voice My Choice“ Teil einer milliardenschweren Abtreibungslobby ist. Finanziell gesehen steht hier also David gegen Goliath. Aber es gibt Grund zur Hoffnung: „Dass die Initiative mit nur 1,2 Millionen Unterschriften weit hinter dem Erfolg von One of Us zurückblieb, ist angesichts dieser Unterstützung geradezu eine Schlappe. Umso mehr, als dass One of Us vor zehn Jahren noch gar nicht auf die Kommunikationsmittel zurückgreifen konnte wie My Voice My Choice heute.“ Die Europäische Union gründet auf einem Wertefundament, das den Schutz des Lebens und der Menschenwürde beinhaltet. „Die Bürger wissen das.“
Die Unterstützer von One of Us haben sich daher auch nicht als Neinsager versammelt, sondern mit einem klaren Anliegen nach vorne, nämlich gesellschaftlichen Kontext zu schaffen, in dem Mutterschaft nicht als Problem, sondern als unschätzbarer Wert angesehen wird. Hier ist die EU sehr wohl gefragt, argumentiert One of Us und beruft sich auf die EU-Grundrechtecharta, in deren Artikel 33 es heißt: „Der rechtliche, wirtschaftliche und soziale Schutz der Familie wird gewährleistet.“ Für jeden der Artikel der Grundrechtecharta sieht die EU einen Geldtopf vor. Wie Nicolaus Bauer vom European Centre for Law and Justice herausfand, wird aus diesem Topf aktuell jedoch nur ein einziges Programm finanziert, das ärmeren Familien in Not wirklich Unterstützung gewährleistet. Alle anderen Programme fördern Abtreibung.
285.000 Kinder durch Hilfszentren gerettet
Deswegen richten die Teilnehmer der One-of-Us-Konferenz mit einer eigenen Erklärung einen deutlichen Appell an die Europäische Union, die gesetzlichen Bestimmungen zur Unterstützung von Müttern zu verbessern, in allen Mitgliedstaaten den gleichberechtigten Zugang zu Unterstützung für Frauen in Not zu gewährleisten und Maßnahmen zu fördern, die das menschliche Leben von der Empfängnis an respektieren und schützen.
Wie das konkret aussehen kann, erzählt Soemia Sibilio, die Leiterin eines Hilfszentrums für Schwangere in Mailand, eines von 400 Zentren, die Teil des italienischen „Movimento per la Vita“ sind. „Jeden Tag öffnen wir unsere Türen, ohne zu wissen, wer eintreten wird. Jeden Tag empfangen wir Frauen mit verschiedenen Geschichten, denen wir zuhören, ohne zu urteilen, damit sich keine in dieser Situation alleine fühlt.“ Neben finanzieller Unterstützung bieten die Hilfszentren rechtlichen Beistand, psychologische Betreuung und Begleitung in ein selbständiges Leben mit Kind. „In den letzten 40 Jahren wurden dank dieser Hilfe über 285.000 Kinder geboren“, erzählt Sibilio unter dem brausenden Applaus der Zuhörer.
Schwangere in Not werden zu oft allein gelassen
Dass ein Feminismus, der wirklich am Wohl der Frauen interessiert ist, nicht für immer noch mehr Abtreibungen kämpft, sondern dafür, dass keine Frau mehr Angst davor haben muss, ihr Kind zur Welt zu bringen, bezeugt auch Leire aus Spanien. Die frühere Abtreibungsbefürworterin hat selbst eine Abtreibung und eine Fehlgeburt hinter sich und jahrelang unter dem Trauma des Verlusts gelitten. Heute begleitet sie andere Frauen mit ähnlichen Geschichten und sagt: „Hinter jeder Abtreibung steht eine Frau, die leidet und oft Gewalt oder Druck erfahren hat. Abtreibung ist viel zu oft das Ergebnis von Unfreiheit, nicht von Freiheit.“
Angesichts der Zeugnisse der Frauen kommt Bernhard Weiskirch, Leiter Kommunikation und Strategie der Stiftung Ja zum Leben, zu folgendem Fazit: „Schwangere in Europa werden viel zu häufig mit ihren Nöten und Ängsten allein gelassen. Am Ende entscheiden sie sich aus Verzweiflung, oder weil sie vom Partner oder Medizinern gedrängt werden, für eine Abtreibung. Stattdessen sehnen sich die Frauen nach Anteilnahme, Ermutigung und praktischer Unterstützung. Wirksame Hilfe ist also möglich. Die EU täte deshalb gut daran, sich entschieden für die Hilfe von schwangeren Frauen in herausfordernden Lebenslagen einzusetzen, damit sie endlich die Freiheit bekommen, Ja zum eigenen Kind zu sagen.“
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