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Täter-Opfer-Umkehr à la Kreml

Die Bilder von den über Moskau abgeschossenen Drohnen dienen der Putin-Mafia dazu, ihre Herrschaft über Russland zu festigen und Kritiker zu verfolgen.
Kreml wirft Ukraine versuchten Drohnen-Anschlag auf Putin vor
Foto: Uncredited (AP) | Blick auf die Kuppel des Senatspalastes im Moskauer Kreml. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat Russland die Fabrikation eines angeblichen Drohnenangriffs auf den Kreml vorgeworfen.

Wollte die Ukraine den russischen Präsidenten mitten im Kreml – in der Hochsicherheitszone des russischen Staates – mit Kampfdrohnen killen? Die russische Staatspropaganda behauptet genau das, der ukrainische Staatspräsident dementiert es heftig. Wie so oft in diesem (und jedem anderen) Krieg steht Aussage gegen Aussage, Narrativ gegen Narrativ. Information und Desinformation sind nicht mehr zu unterscheiden. Den Staaten und ihren Geheimdiensten geht es nicht um Wahrheitsfindung, sondern um eine Darstellung gemäß den eigenen strategischen Interessen.

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Nicht die Propagandafotos russischer Herkunft, aber die staatlichen Interessen sind durchschaubar und benennbar. Wozu das von Russland auf vielen Kanälen transportierte Narrativ dient, lässt sich an den Wutreden russischer Spitzenpolitiker und den Propaganda-Kommentaren staatshöriger russischer Medien ablesen. Die Botschaft des Kreml an die eigenen Bürger und an die Putin-Freunde in aller Welt lautet: Russland wird angegriffen!

Tyrannen, die sich in die Opferpose werfen

Es ist eine klassische Täter-Opfer-Umkehr, wie sie Adolf Hitler 1938/39 und Slobodan Milosevic 1989/90 betrieben: Der Mythos, von feindlichen Mächten umkreist, bedrängt und gedemütigt zu werden und deshalb zu einem Befreiungsschlag geradezu gezwungen zu sein, scheint solchen Tyrannen immer wieder nützlich. So durchschaubar und mit Fakten widerlegbar eine solche Tarnung der eigenen Aggression auch ist, sie hat doch viele Vorteile: Erstens gibt es – zumal in einem Staat ohne Presse- und Meinungsfreiheit – viele Menschen, die den Mythos glauben; zweitens erlaubt er, Skeptiker und Kriegsdienstverweigerer als Vaterlandsverräter und Feiglinge zu verleumden und strafrechtlich zu verfolgen; drittens rechtfertigt er jede Eskalation der eigenen Kriegsführung.

All dies geschieht heute bereits in Russland. Immer offensichtlicher wird, dass Wladimir Putin nicht nur einen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führt, sondern einen unerbittlichen Kampf gegen die letzten Reste unabhängigen Denkens im eigenen Land. Die Putin-Mafia, die sich Russlands bemächtigt hat, benutzt die propagierte Opferrolle, um ihre totalitäre Herrschaft im eigenen Land zu festigen. Die Bilder von den über dem Kreml angeblich abgeschossenen Drohnen sind ein klares Signal an die eigene Bevölkerung: Wer sich jetzt nicht in blinder Loyalität für Putins Krieg zur Verfügung stellt, muss damit rechnen, als „ausländischer Agent“, ja als Feind hinter den Linien verfolgt zu werden.

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Stephan Baier Adolf Hitler Russlands Krieg gegen die Ukraine Russische Regierung Wladimir Wladimirowitsch Putin

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