Irgendwie ist das Chaos in Syrien für die Innenminister mancher EU-Mitgliedstaaten allzu praktisch. Wenn Migranten aus Syrien in den Straßen deutscher und österreichischer Städte vor Freude über den Sturz von Assad tanzten, so scheint es für Asyl ja keine weiteren Gründe mehr zu geben. Zumal die neuen Machthaber sich gar so konstruktiv äußern: Offenbar geht es den freundlichen Herren mit ihren wohlgepflegten Bärten um Sicherheit und Stabilität, um Frieden und Freiheit. Herzallerliebst!
Was manche Politiker und Medien derzeit auf die syrische Wirklichkeit projizieren, ist naiver als die Weltpolitik erlaubt. Syrien ist weiterhin ein zerrissenes Land, in dem die HTS die wesentliche Nord-Süd-Achse kontrolliert, aber keineswegs das ganze Land. Das System von Assad ist kollabiert, aber eine neue Machtbalance zwischen den unterschiedlichen bewaffneten Gruppen ist längst noch nicht gefunden. Und dann wären da noch die militärisch betriebenen Interessen der benachbarten Mächte, immerhin ist Syrien weiterhin ein Kampfgebiet für die Armeen Israels und der Türkei.
Zuerst kommt die Konsolidierung der Macht
Gewiss, die HTS will jetzt zunächst einmal eine Konsolidierung – aber nicht der Demokratie oder der Bürgergesellschaft, sondern ihrer Macht. Was dann passiert, lässt sich heute nur an Indizien ablesen. Schon jetzt werden Frauen ohne Kopftuch auf offener Straße angepöbelt, und die Kirchen rätseln, wie sie das Weihnachtsfest begehen können. Die Schrecken der säkularen Assad-Tyrannei sind vorüber, die Schrecken einer neuen islamistischen Diktatur lassen sich bereits ahnen.
Für zwei traditionelle Minderheiten Syriens ist die Zukunft besonders ungewiss und besorgniserregend: für die Kurden, die von der Türkei pauschal zu PKK-Terroristen erklärt und entsprechend bekämpft werden, die aber auch den sunnitisch-arabischen Milizen nicht trauen können. Und für die Christen, die als alteingesessene Minderheit ihren Glauben unter der Doppelherrschaft von Hafis al-Assad und seinem Sohn Bashar ein halbes Jahrhundert lang erstaunlich frei leben konnten. Doch gerade deshalb galten sie den radikalen Sunniten seit jeher als Stützen und Profiteure des Assad-Regimes. Nun müssen sie mit Unterdrückung und Racheakten rechnen.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen