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Christentum hat Mehrwert

„Wir haben eine starke Position mit außerordentlich guten Begründungen“, meint der Theologe Elmar Nass. Doch wie bringt man die heute noch zu Gehör?
Debatte Symbolbild
Foto: Elly Walton (imago stock&people) | Wie kann die christliche Sozialethik heute noch christliche Argumente in den Diskurs einbringen, die Gehör finden?

„Jesus ist nicht als Primat oder als Antilope in die Welt gekommen, sondern als Mensch.“ Ein Lachen geht durch den Hörsaal. Dabei geht es um ein ernstes Thema: Mit dem Glauben in heutigen gesellschaftlichen Diskussionen argumentieren – ist das überhaupt noch statthaft, geschweige denn möglich? Die westlichen Gesellschaften stehen vor drängenden Fragen, die nach tragfähigen Antworten verlangen: Ist ein gerechter Krieg richtig oder nicht doch eher der Pazifismus? Ist Künstliche Intelligenz Fluch oder Segen? Ist China ein Vorbild oder eine Gefahr? Da ist guter Rat teuer. Kann der vom Christentum kommen – oder ist das Christentum nicht eh von gestern? Und: Soll man als Christ überhaupt aus dem Glauben heraus argumentieren oder nicht lieber nur solche Argumente verwenden, die konsensfähig sind?

Diese schwierigen Fragen setzt der Kölner Theologieprofessor Elmar Nass seinen Zuhörern im Rahmen der Vortragsreihe „7über7“ der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz am 1. Dezember vor. Engagiert und anschaulich spricht der Professor für christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog und Prorektor der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT) in seinem Vortrag mit dem Titel „Mit Werten Gesellschaft gestalten: Die gewinnende Kraft christlicher Sozialethik“ über die Stärke christlicher Begründungen und die Notwendigkeit, diese in den Diskurs einzubringen.

Die Werte hinter Lösungsansätzen sehen

Zunächst nimmt er seine Zuhörer mit hinein in die Welt der gesellschaftlichen Debatten: Wie laufen sozialethische Diskurse heute ab? Ein Diskurs entsteht, sobald ein Dilemma auftritt, das nach einer Lösung verlangt. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es viele unterschiedliche ethische Positionierungen dazu. Etwa den Utilitarismus, der mit dem Nutzen argumentiert, oder auch liberale, sozialistische, kantische und religiöse Positionen – darunter eben die christliche Sozialethik. Wichtig ist: Hinter jeder dieser Positionierungen steht eine Wertebasis, das heißt, verschiedene Vorstellungen von Mensch, Gesellschaft und Verantwortung. Diese führen zu unterschiedlichen Lösungsansätzen. Die Wertebasis hinter den Lösungsansätzen zu sehen, ist für die Bewertung einer ethischen Position unerlässlich. Nass betont: „Viele Probleme mancher ethischer Positionen liegen genau in dieser Wertebasis.“ Und weiter: „Eine ethische Diskussion darf sich nicht nur an der Oberfläche bewegen, sondern sie muss die Gründe für die eigene Argumentation offenlegen.“

Dabei hat die christliche Position es immer schwerer, überhaupt gehört zu werden. Missbrauchsskandale, mangelnde Streitkultur innerhalb der Kirche und sinkende Zahlen an Gläubigen haben das Christentum im gesellschaftlichen Diskurs in die Defensive gedrängt. Da müsse das Christentum wieder herauskommen, meint Nass, um die Gesellschaft mit den christlichen Werten kraftvoll zu gestalten. Denn dazu ist das Christentum aufgerufen: zum einen, weil das ein Auftrag Jesu ist, zum anderen, weil es der Gesellschaft wirklich einen Mehrwert bietet, das heißt, neue oder überzeugende Begründungen und/oder Lösungen. Dabei sind zwei Fragen entscheidend: Was ist die christliche Wertebasis? Und: Wie kann die profilierte christliche Position in Diskurse der Zeit hineingetragen werden?

Was das Christentum zu bieten hat

Die christliche Wertebasis besteht einerseits in der Verantwortung gegenüber Gott, sich selbst, den Mitmenschen und der Schöpfung. Darüber hinaus ist die Menschenwürde im Christentum nicht bloß eine Behauptung, sondern gut begründbar. Nass meint sogar: „Wir können sie im Gegensatz zu anderen ethischen Ansätzen bestens begründen.“ Und zwar durch die Gottebenbildlichkeit, aber auch durch die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Denn – wie bereits eingangs zitiert – Jesus  ist als Mensch und als nichts anderes in diese Welt gekommen. Das führt zur unbedingten Würde jedes Menschen. Drittens sieht das Christentum in der Menschheit eine große Familie. „Mit einer christlichen Ethik kann niemals irgendeine Kampfideologie verbunden sein – weder ein Rassen-, noch ein Klassenkampf noch ein Kampf der Religionen.“ Denn: Das Christentum ist eine Friedensidee und bemüht sich um die Inklusion aller gesellschaftlichen Gruppen – im Gegensatz zu ethischen Positionen an den ideologischen Rändern.

Diese Basis hat für eine Gesellschaft auf vielfältige Weise einen Mehrwert: Er besteht neben einer guten Begründung einer unantastbaren Würde, einer Friedenskultur und sozialen Tugenden wie Demut und Lebensfreude mit Selbst- und Sozialverantwortung auch in der Heiligkeit der Schöpfung. Die christliche Sicht relativiert menschliche Macht und Machbarkeit, bringt Resilienz gegen autoritäre Herrschaften mit sich und lehnt eine Technik-, Medien-, Nutzen- und Wirtschaftshörigkeit ab. Viele Vorteile also! Aber wie sollen diese nun in den Diskurs eingebracht werden?

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Nicht Anschluss suchen, sondern den Glauben anbieten

Dabei stehen sich Nass zufolge zwei Strategien gegenüber. Die Mehrheit der – zumindest deutschsprachigen – Sozialethiker vertritt einen „methodologischen Atheismus“. Weil sie beispielsweise das Naturrecht in einer säkularisierten Gesellschaft nicht mehr für anschlussfähig hält, verzichtet sie im Diskurs darauf. Ein Extrembeispiel ist der Sozialethiker Bernhard Preusche: Ihm zufolge sollen in einen ethischen Diskurs nur noch Argumente eingespeist werden dürfen, die in einer Vorüberlegung für konsensfähig gehalten werden. Doch damit, so Nass, würden alle Argumente, die anecken und nicht konsensfähig sind, aus dem Diskurs „hinauszensiert“. „Meiner Meinung nach ist eine solche Haltung eine Gefahr auch für den Pluralismus und den Prozess der demokratischen Meinungsbildung, weil nämlich dann Minderheitenmeinungen überhaupt nicht mehr in den Diskurs eingespeist werden.“ Dazu zähle dann letztlich auch eine christliche Wertebegründung, da sie nicht mehr konsensfähig sei.

Was ist die Alternative? Laut Nass ein selbstbewusstes und offensives Einbringen der eigenen Begründungen in den Diskurs – wie Vertreter der anderen Ethiken das auch tun: „Es wird kein Kantianer in den ethischen Diskurs gehen und seine kantischen Wurzeln verleugnen aus Sorge, dass er deswegen vom Diskurs ausgeschlossen wird – aber wir als Christen sollen das tun? Das ist doch absurd!“ Seine Erfahrung zeigt: Gerade dann gebe es keine Denkblockaden auf der anderen Seite. In einer zunehmend säkularen Gesellschaft seien die Menschen im Gegenteil sogar wieder neugierig zu hören, was eine christliche Position zu sagen habe und wie sie denn begründbar sei.

Eine Koalition der Lösungen

Nun gut, die christliche Position ist also in den Diskurs eingebracht – aber sie kann laut Nass anders als früher nicht mehr davon ausgehen, dass die Mehrheit einer Gesellschaft eine christliche Begründung teilt. Deshalb gilt es, Koalitionen zu bilden – nicht auf Ebene der Begründungen, sondern auf Ebene der daraus abgeleiteten Ergebnisse. Säkulare Begründungen und Lösungen werden mit der christlichen Position konfrontiert. Dabei zeigt sich: Christliche Lösungsansätze verbindet beispielsweise viel mit kantischen und aristotelischen. Dabei muss innerhalb der Koalition weiter über Begründungen diskutiert werden, aber die gemeinsamen Lösungsansätze können die Gesellschaft gestalten.

Ukrainekrieg, KI und China durch eine christliche Brille

Im zweiten Teil des Vortrags taucht Nass mit den Zuhörern in spannende Praxisthemen ein. Wie kann eine christliche Position beispielsweise zum Thema Krieg vor dem Hintergrund des „gerechten Kriegs“ nach Augustinus sowie dem Gebot der Feindesliebe Jesu aussehen? Dabei entwickelt Nass eine mögliche christliche Position, die eine Brücke schlägt zwischen einem visionären Pazifismus, der als langfristiges Ziel vor Kriegstreiberei bewahrt, und der Lehre vom „gerechten Krieg“, die Grenzen absteckt und vor ungezügelter Barbarei bewahrt.

Ein weiteres großes Thema unserer Zeit: Künstliche Intelligenz. Hier darf sich die ethische Diskussion nicht nur auf Fragen des Datenschutzes und der Privatsphäre beschränken, sondern muss auch die Dimensionen der Menschenwürde, der Gerechtigkeit, der Verantwortung und der Demokratiefähigkeit betrachten. Die Technologie werde laut Nass auch von Menschen genutzt, um mit ihren weltanschaulichen Ideologien die Gesellschaft zu verändern – man denke beispielsweise an den Transhumanismus, der eine Überwindung der menschlichen Grenzen mithilfe von Technologie anstrebt. Aus christlicher Sicht sei wichtig, KI als Assistenz des Menschen, nicht als Ersatz zu sehen. Außerdem solle eine vermenschlichende Sprache überdacht und für Chancen und ethische Probleme im Zusammenhang mit KI sensibilisiert werden. Darüber hinaus sind Bildung, Regulierung, Kreativität und Intuition im Umgang mit KI gefragt. Aus christlicher Sicht muss zudem die Auswirkung von KI auf das Verhältnis des Menschen zu Gott ins Auge gefasst werden. Die KI dürfe, so Nass, nicht den Zugang zu Gott als transzendenter, moralischer Instanz verhindern.

Zu guter Letzt wirft Nass mit seinen Zuhörern noch einen Blick auf die aufstrebende Weltmacht China. Sie sei eine Bedrohung für Wahrheit, Freiheit und Menschenwürde. Hier sei wichtig, sich mit den Wertevorstellungen hinter der Ideologie auseinanderzusetzen: einem großen Traum von Wohlstand, Harmonie und Autarkie. China verwende oft die gleichen Worte wie westliche Politiker, verstehe aber etwas anderes darunter – beispielsweise unter Menschenrechten kollektive Rechte. Aus Sicht des Christentums müsse man konstatieren: In China herrsche sowohl ein Mangel an Subsidiarität als auch an Personalität und Solidarität.

Zum Abschluss resümiert Nass: „Ich hoffe, ich konnte Sie ein bisschen wachrütteln und dafür begeistern, dass wir als Christen einen Auftrag haben, Gesellschaft zu gestalten, und dass wir hervorragende Begründungen und Werte haben, die wir in den gesellschaftlichen Dialog mutig einbringen – ohne unsere Position zu verstecken. Dann bin ich zuversichtlich, dass wir als Christen starke Koalitionen bilden und, auch wenn wir in der Minderheit sind, Gesellschaft auch wieder wirksam gestalten können.“ Das macht Mut – gerade im Angesicht der nicht eben wenigen Dilemmata dieser Tage.

Den Vortrag können Sie sich hier auf Youtube ansehen. 

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