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"Supreme Court": Richter aufgeschlossen für neues Abtreibungsurteil

Am Obersten Gericht der USA haben die Anhörungen zum wichtigsten Abtreibungsfall seit Jahren begonnen. Konservative Richter bestätigen die Tendenz, dass es zu einer Revision von "Roe vs. Wade" kommen könnte.
"Roe vs. Wade" wird vor "Supreme Court" verhandelt
Foto: Jacquelyn Martin (AP) | Abtreibungsbefürworter und Abtreibungsgegner demonstrieren vor dem Obersten Gerichtshof. Am Mittwoch haben dort die mündlichen Anhörungen zum wohl wichtigsten Abtreibungsfall seit Jahren begonnen.

Am Obersten Gerichtshof der USA haben am Mittwoch die mündlichen Anhörungen zum wohl wichtigsten Abtreibungsfall seit Jahren begonnen. Im Fall „Dobbs vs. Jackson Women’s Health Organization“ befasst sich der „Supreme Court“ mit der Frage, ob alle Verbote von Abtreibungen vor der Lebensfähigkeit des Kindes außerhalb des Mutterleibs verfassungswidrig sind.

Die Äußerungen einiger konservativer Richter während der Anhörungen bestätigten am Mittwoch bereits die Tendenz, die schon zahlreiche Beobachter in den vergangenen Monaten erkannt hatten: Der Oberste Gerichtshof könnte zu einer grundlegenden Neubewertung der bislang gültigen Abtreibungsgesetzgebung kommen. 

Auch Biden-Regierung gegen Gesetz aus Mississippi

Ausgangspunkt war ein im Bundesstaat Mississippi erlassenes Gesetz, der „Gestational Age Act“. Dieses war bereits 2018 verabschiedet worden und verbietet Abtreibungen ab der 15. Schwangerschaftswoche. Derzeit ist das Gesetz durch das Urteil eines Bundesgerichts außer Kraft gesetzt. Geklagt hatte die einzige Abtreibungsklinik in Mississippi, jene „Jackson Women’s Health Organization“, nach der der Fall benannt ist.

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Die bislang geltende Rechtslage geht zurück auf das Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ aus dem Jahr 1973. Die umstrittene Entscheidung erlaubt straffreie Abtreibungen vor der Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs – im ersten Trimester einer Schwangerschaft quasi ohne Einschränkungen, mit gewissen Einschränkungen auch noch im zweiten Trimester. 

Die Plädoyers vor den Höchstrichtern in Washington hielten drei Juristen: Scott Stewart, Justiziar des Bundesstaates Mississippi, verteidigte das 2018 erlassene Gesetz; Julie Rikelman vom „Center for Reproductive Rights“ vertrat die Abtreibungsklinik „Jackson Women’s Health“; und Elizaeth Prelogar vetrat als Generalstaatsanwältin die Regierung von US-Präsident Joe Biden, die sich ebenfalls gegen das Gesetz aus Mississippi stellte.

Richter Kavanaugh: Warum sollte "Supreme Court" Schiedsrichter spielen?

In den anschließenden Fragen und Bemerkungen der Richter wurden bereits einige der entscheidenden Konfliktpunkte angesprochen: So ging es unter anderem um den Wortlaut der Verfassung, aus dem Befürworter ein „Recht auf Abtreibung“ herleiten, aber auch um den Beginn der Lebensfähigkeit des Fötus. Diskutiert wurde die Frage, ob es nicht jedem einzelnen Bundesstaat obliege, eine Gesetzgebung zu Abtreibung zu entwerfen. Und auch das juristische Prinzip des „Stare decisis“, demzufolge sich Gerichte an frühere Entscheidungen halten sollten, um etablierte Präzedenzfälle nicht im Nachhinein für falsch zu erklären, kam zur Sprache. 

Insbesondere der vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump ernannte Richter Brett Kavanaugh war es, der mit seinen Wortmeldungen wohl am deutlichsten erkennen ließ, dass er für eine Revision des Grundsatzurteils „Roe vs. Wade“ offen ist und den Obersten Gerichtshof nicht unbedingt als die Instanz ansieht, die sich in der Abtreibungsfrage auf eine Seite stellen muss.

Angesichts der unversöhnlichen Lager von Abtreibungsbefürwortern und -gegnern fragte er: „Warum sollte dieses Gericht der Schiedsrichter sein, und nicht der Kongress, die Parlamente oder die Obersten Gerichte in den Bundesstaaten, oder sogar das Volk?“ Kavanaugh nannte zum einen den konservativen Staat Mississippi und im Vergleich den eher linksliberalen Staat New York und konstatierte dann: Wenn zwei konträre Interessen auf dem Spiel stünden, sei es gut möglich, dass die Bürger in unterschiedlichen Bundesstaaten bei der Bewertung dieser Interessen zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen. 

Müssen "falsche" Präzedenzfälle bestehen bleiben?

Auch zum Prinzip des „Stare decisis“ äußerte sich Kavanaugh eher kritisch. Der 56-Jährige verwies auf die Geschichte des „Supreme Court“ und nannte zahlreiche aus seiner Sicht wegweisende Fälle, in denen das Gericht vorangegangene Urteile wieder verworfen habe. „Wenn man der Meinung ist, dass Präzedenzfälle zutiefst falsch sind, sagt uns die Geschichte dieses Gerichts […] nicht einfach, dass die richtige Antwort ist, zu einer neutralen Position zurückzukehren?“

Der Vorsitzende der neun „Supreme-Court“-Richter, Chief Justice John Roberts, gab zu Bedenken, dass die von Mississippi vorgesehene Frist von 15 Wochen für eine Abtreibung nicht unbedingt mit dem von Abtreibungsbefürwortern stets betonten Recht auf Entscheidungsfreiheit bzw. Selbstbestimmung kollidiere. „Wenn man die Auffassung vertritt, dass Frauen die Wahlfreiheit haben sollten, ihre Schwangerschaft zu beenden, setzt das voraus, dass es einen Punkt gibt, an dem sie eine faire Möglichkeit gehabt haben müssen, sich zu entscheiden. Und warum sollten 15 Wochen dafür nicht angemessen sein?“ 

Auch stelle die Frist von 15 Wochen seiner Ansicht nach keine grundlegende Abkehr von der bislang gültigen Rechtslage dar, die Abtreibungen vor der Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt. Roberts wörtlich: „Ein Verbot ab der 15. Woche ist der Standard in der großen Mehrzahl anderer Länder.“ Das bisher geltende Verbot etwa ab der 24. Schwangerschaftswoche sei eher vergleichbar mit Ländern wie China oder Nordkorea. Selbst wenn man ein Abtreibungsverbot ab der 15. Woche ansetze, so Roberts, schränke dies nicht die Möglichkeit der freien Entscheidung ein. Zudem betonte er, dass der Oberste Gerichtshof seine Entscheidungen nicht danach ausrichten könne, ob diese bei den Bürgern auf Zuspruch stoßen würden oder nicht.

US-Bischöfe: Entscheidender Moment für das Land

Indes riefen mehrere amerikanische katholische Bischöfe angesichts der Anhörungen in Washington zum Einsatz für das ungeborene Leben auf. Der Erzbischof von Baltimore und Vorsitzende des Lebensschutz-Komitees der US-Bischöfe, William Lori, betonte in einer Erklärung, dass in den USA mehr als 600.000 ungeborene Kinder jährlich durch Abtreibung ihr Leben verlieren würden. Der Fall „Dobbs“ biete nun die Chance, dies zu ändern. Er bete dafür, dass der Oberste Gerichtshof das Richtige tue und es wieder den Bundesstaaten überlasse, Abtreibungen einzuschränken oder zu verbieten.

Der Erzbischof von San Francisco, Salvatore Cordileone, rief über den Kurzmitteilungsdienst „Twitter“ zum Gebet für den „Supreme Court“ und „für die Frauen, die unsere Liebe und Unterstützung brauchen“, auf. Der Bischof von Providence, Thomas Tobin, sprach auf Twitter von einem „entscheidenden Moment für unser Land“. Es gehe um die Frage, ob die USA weiter unschuldige ungeborene Kinder töte und die schutzbedürftigsten Frauen ausnutze, oder ob man eine „authentische Kultur des Lebens“ fördern werde. 

Indes bekräftigte der amerikanische Präsident Joe Biden seine Haltung zum Lebensschutz. Zwar habe er sich die Debatten nicht angesehen, er unterstütze jedoch das umstrittene Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“. Biden bekräftigte in der Vergangenheit immer wieder, als Privatperson gegen Abtreibung zu sein, als Politiker setzte er sich jedoch für ein „Recht auf Abtreibung“ ein. 

Amerikanische Lebensrechtler kritisierten Biden

Amerikanische Lebensrechtler kritisierten Biden sogleich für seine Äußerungen. Eine Sprecherin der „Susan B. Anthony List“ erklärte: „Wenn Joe Biden heute aufgepasst hätte, hätte er die intensivste Debatte über Abtreibung gehört, die der Supreme Court jemals geführt hat.“ Solch eine Debatte stünde allen Amerikanern zu, jedoch sei sie ihnen 50 Jahre lang – also seit dem Urteil „Roe vs. Wade“ – verweigert worden. 

Auch der Vorsitzende der Lebensschutzorganisation „Heartbeat International“, Jor-El Godsey, schloss sich der Kritik an. Biden habe zwar die Debatte verpasst, doch es sei unmöglich zu ignorieren, dass es Frauen gelinge, ihren eigenen Weg ohne eine Abtreibung zu beschreiten, oder dass es immer mehr Schwangerschaftsberatungseinrichtungen gebe, die Frauen ermutigen, ohne eine Abtreibung auszukommen.

Nach den ersten mündlichen Anhörungen am Mittwoch hat der „Supreme Court“ nun mehrere Monate Zeit, um sich mit den einzelnen Argumenten zu befassen und zu beraten. Ein Urteil wird im Juni 2022 erwartet. 

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Maximilian Lutz Brett Kavanaugh Donald Trump Erzbischöfe Joe Biden John Roberts Roe v. Wade

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