Nicht nur im US-Kongress und im Europäischen Parlament, sondern in vielen Parlamenten demokratischer Rechtsstaaten hat der ukrainische Staatspräsident Volodymyr Selenskyj seit dem Beginn der russischen Invasion vor 13 Monaten bereits gesprochen, meist per Video zugeschaltet. Am Donnerstag sprach er nun auch im österreichischen Nationalrat, allerdings vor der offiziellen Sitzung und mit einem Jahr Verspätung. Grund dafür war der anhaltende Widerstand der FPÖ, die in Selenskyjs Auftritt eine Verletzung der österreichischen Neutralität sieht.
Von einem „unglaublichen Tabubruch“ sprach im Vorfeld FPÖ-Chef Herbert Kickl, der eine Rede des ukrainischen Präsidenten mit dem Argument ablehnte, man sei wegen der österreichischen Neutralität auch gegen eine Rede des russischen Präsidenten. Die FPÖ-Abgeordneten boykottierten dann auch Selenskyjs Rede und hinterließen auf ihren Plätzen im Plenarsaal Schilder mit der Aufschrift „Platz für Neutralität“.
Humanitäre Hilfe ist keine Geopolitik
Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) bezeichnete die Ukraine als „Opfer massiver und grausamer russischer Aggression“, verurteilte in deutlichen Worten den „völkerrechtswidrigen Krieg Russlands“ und bekannte sich zur „uneingeschränkten Solidarität Österreichs“. Sobotka erklärte, Österreich sei „militärisch neutral, aber nicht politisch“. Das Land bekenne sich zur Souveränität der Ukraine, denn Russland habe durch den Krieg „die globale Sicherheitsarchitektur gefährdet“. Österreich hat laut Sobotka der Ukraine mit 129 Millionen Euro finanziell und humanitär geholfen. Es sei „unabdingbar, die vielen Kriegsverbrechen aufzuklären und die Täter zur Verantwortung zu ziehen“.
Volodymyr Selenskyj selbst sprach von einem „totalen Krieg Russlands gegen unser Volk“, der nun schon 400 Tage dauere. Russland habe in der Ukraine eine Fläche, die doppelt so groß ist wie Österreich mit Panzerminen, Artilleriegeschossen und Stolperdrahtminen kontaminiert. „Wir bitten um Unterstützung, um Leben retten zu können“, appellierte Selenskyj an die Österreicher. Es sei „wichtig, moralisch nicht neutral zu sein gegenüber dem Bösen“. Bei der humanitären Hilfe, die Österreich leiste gehe es nicht um Geopolitik.
Solidarisch mit Putin?
In der auf die Rede folgenden Debatte kritisierte der ÖVP-Außenpolitiker Reinhold Lopatka den FPÖ-Chef: „Kickl ist solidarisch mit Putin, wir sind es mit den Menschen in der Ukraine.“ Der SPÖ-Abgeordnete Jörg Leichtfried warf der FPÖ vor, im ersten Kriegsjahr 30 pro-russische Anträge im Parlament eingebracht zu haben. Das sei weder ein Signal für den Frieden noch für Österreichs Neutralität. NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger sagte in Richtung FPÖ: „Ich schäme mich dafür, dass wir hier im Hohen Haus Menschen haben, die nicht unterscheiden können zwischen Opfern und Tätern.“ DT/sba
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