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Mit dem Zug in den Krieg?

Lemberger Begegnungen mit einem heroischen Botschafter, einem schlauen Pater und einem erschöpften Kollegen. Die erste Folge des "Ukrainischen Tagebuchs".
Leben in Lemberg
Foto: IMAGO/Artur Widak (www.imago-images.de) | Menschen warten in der westukrainischen Stadt Lemberg (Lviv) auf einen Bus. Um Mitternacht beginnt die Ausgangssperre.

Kann ich vielleicht gar mit dem Speisewagen in den Krieg fahren? Der Gedanke kommt mir, als ich am Wiener Hauptbahnhof in den durchgehenden Zug nach Przemysl einsteige. Schlemmend bis hart an die ukrainische Grenze zu reisen, das wäre wohl ebenso reizvoll wie dekadent. Der prachtvolle Speisewagen, in dem es hervorragenden Kaffee und steirisches Bier gibt, wird allerdings mit der Hälfte des Zuges in Mähren abgehängt. Fastend geht es durch Südpolen weiter.

„In der Habsburger-Monarchie brauchte der durchgehende Zug von Wien bis Lemberg sieben Stunden“, erzählt mir Yuriy Kolasa, der aus Lemberg stammende Generalvikar für die Katholiken des byzantinischen Ritus in Österreich. Heute brauchen wir 13 Stunden. Und selbst das verdanken wir freundlichen Helfern: Im Zug begegnen wir dem österreichischen Botschafter in Kiew, Arad Benkö, der ebenfalls nach Lemberg möchte. „Mein Platz ist in Kiew – und wenn die Welt dort untergeht!“, sagt er lächelnd. Dass Russland die Angriffe vor dem Jahrestag der Invasion intensiviert, schreckt ihn nicht. Er erzählt vom Luftalarm, den er immer wieder erlebte, analysiert die westliche Politik.

Im diplomatischen Schlepptau über die Grenze

Der Botschafter willigt sogleich ein, uns im diplomatischen Schlepptau mit über die Grenze zu bringen. Der Botschafter wird von zwei zivil gekleideten österreichischen Polizisten der Sondereinheit Cobra am polnischen Grenzbahnhof Przemysl abgeholt, während uns ein ukrainischer Basilianerpater erwartet. Der Kleinbus des Botschafters also voran, wir hinterher: Gut drei Stunden ersparen wir uns auf diese Weise.

Der österreichische Botschafter in Kiew, Arad Benkö
Foto: Stephan Baier | Der österreichische Botschafter in Kiew, Arad Benkö (rechts), reiste ebenfalls nach Lemberg. Im Bild zu sehen ist er mit dem aus Lemberg stammenden Generalvikar für die Katholiken des byzantinischen Ritus in ...

Schreckliches weiß der Basilianerpater aus Cherson zu berichten. Mit vorgehaltener Waffe hätten die russischen Besatzer die Leute zum Referendum getrieben. Wer den russischen Pass nicht akzeptierte, musste mit dem Schlimmsten rechnen. Ihn selbst verhörte ein russischer Geheimdienstmitarbeiter. Warum er Russisch mit so fremdem Akzent spreche, fragte der FSB-Offizier. „War das nicht bei Stalin auch so?“, habe er zurückgefragt. Die Anspielung auf den berüchtigten Georgier mag ihn gerettet haben. Mehr als 300 friedlich demonstrierende Studenten seien im Park zusammengetrieben und erschossen worden, erzählt er – hörbar bewegt.

Nach der Grenze geht es auf holpriger Straße nach Lemberg, einst Perle des habsburgischen Ostens – heute die in die Jahre gekommene Perle des ukrainischen Westens. Am Straßenrand entdecken wir Marienstatuen und Kapellen, an denen sich trotz winterlicher Kälte Beter sammeln. Nach vielen Jahren treffe ich in Lemberg endlich Juri Durkot wieder, den grandiosen Schriftsteller und Übersetzer, den ich 2012 hier kennenlernte. In der Zwischenzeit hat er immer wieder Analysen und Reportagen für „Die Tagespost“ geliefert. 

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Juri (Georg) Durkot arbeitet rund um die Uhr, um die Menschen im deutschen Sprachraum über den Krieg zu informieren – und hat doch ein schlechtes Gewissen, weil er nicht an der Front kämpfen kann. Brillant analysiert er Putins Motive, bilanziert die sowjetischen Jahrzehnte und erzählt Anekdoten. „Schreib das in der Tagespost“, ermutige ich ihn immer wieder. Er arbeitet viel zu viel, wirkt müde und doch humorvoll. Die Zeit verfliegt, wir rufen ein Taxi – um Mitternacht beginnt die Ausgangssperre.


Begleiten Sie unseren Korrespondenten Stephan Baier in den kommenden Tagen auf seiner Reise durch die Ukraine. Alle Folgen des Ukrainischen Tagebuchs finden Sie hier.

Lesen Sie weitere Berichte und Reportagen aus der Ukraine in der kommenden Ausgabe der "Tagespost".

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