Die Bilder werden an ihm hängen bleiben. Sollte Friedrich Merz dann doch noch irgendwann ins Kanzleramt einziehen – in dieser Möglichkeitsform muss man mittlerweile formulieren – und tatsächlich in irgendeiner Form doch noch reüssieren, diesen Schatten des Scheiterns wird er nicht mehr los. Denn ohne gewählt zu sein, genauer: weil er eben nicht im ersten Wahlgang eine Mehrheit bekommen hat, nimmt er schon jetzt eine historische Sonderstellung ein: Er ist der erste, dem dieses Schicksal widerfuhr.
Wird er aber auch der Letzte gewesen sein? Oder war das nur der Auftakt zu einer Ära der Disruption, die dann später in den Geschichtsbüchern vielleicht den Namen von Merz tragen wird? Wird es dann heißen: „Damals unter ihm fing es an …?“ Schon geistert der Satz von Markus Söder durch die Gänge des Reichstages, der über die „letzte Patrone der Demokratie“ philosophiert hat. Ist sie jetzt schon verschossen?
Mehr als nur ein Machtsignal der Hinterbänkler?
Was ist eigentlich in den Köpfen der Abgeordneten der Koalitionsparteien vorgegangen, die jetzt ihrem Kandidaten die Stimme verweigert haben? Sicher, in der Union gibt es manche, die ihr Mütchen kühlen wollen, und in der SPD fremdeln trotz Mitgliedervotum viele noch mit der Koalition. War das jetzt nur ein Machtsignal, der Hinterbänkler lässt seine Muskeln spielen?
Aber was ist dann von den Warnungen à la Söder zu halten, dass die Demokratie scheitern könnte? In diesen Chor stimmt in der Regel auch der unbekannte Hinterbänkler aus Union oder SPD mit ein. Offenbar stehen aber, Sonntagsrede hin, Sonntagsrede her, individuelle Machtinteressen vor der staatspolitischen Verantwortung. Das heißt dann aber auch: Mit der großen Angst vor der wackelnden Stabilität kann es dann doch nicht so weit her sein. Würde man denn sonst gegen die schwankenden Säulen drücken, damit die Statik noch mehr ins Wanken gerät? War die Sorge also nur Heuchelei, zählt am Ende letztlich der eigene Machtvorteil?
Genau diese Frage werden sich nun viele Bürger stellen. Vielleicht zunächst noch eher unbewusst, das politische Unbehagen kommt aus dem Bauch. Aber irgendwann werden die Fragen konkreter. Sie können sogar zur Systemfrage werden. Die Ängste vor der Disruption entstammten bisher den Köpfen der politischen Klasse. War das aber alles nur Rhetorik, Heuchelei? Denn die disruptive Kraft kam ja jetzt aus den selbsternannten „Parteien der Mitte“ selbst.
Bröckelnde Stabilität wird zur Erlösungsphantasie
Nicht wenige werden das Narrativ von den staatstragenden Volksparteien geglaubt haben, die dem disruptiven Sog eine Mauer entgegensetzen wollen. Die ist jetzt zerbrochen. Enttäuschung führt aber zur echten Disruption. Die ist dann nicht ein Konstrukt irgendwelcher Spin-Doctors in den Parteizentralen, sondern sie wächst eben im Bauch der Bürger. Und sie ist dann auch nicht mehr mit Angst verbunden, sondern mit Sehnsucht.
Dass die bisherige Stabilität, die sich aber im Grunde als fragil erweist, zerbröselt, ist dann kein Schreckensszenario mehr, sondern wird zur Erlösungsphantasie. Wenn diese Sehnsüchte nun wachsen, dann haben die Abgeordneten der „Parteien der Mitte“, die jetzt diese historische Ausnahmesituation mit herbeigeführt haben, einen gehörigen Anteil. Sie sind so zu unfreiwilligen Geburtshelfern einer neuen Ära geworden.
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