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„Letzte Generation“: Letzter Aufstand vor der Apokalypse?

Schuld und Sühne auf Berliner Asphalt: Die „Letzte Generation“ blockiert Autobahnen, um Politiker zu verschärften Klimagesetzen zu zwingen. Kann das gelingen? Ein Treffen mit den Aktivisten.
Lea Bonasera, Aufstand der Letzten Generation
Foto: Emanuela Sutter | Lea blockiert mit vier weiteren Klimaaktivisten eine Straße in Berlin. Ihre rechte Hand hat sie mit Superkleber an die Fahrbahn geklebt.

Wie weit geht man für eine gerechtere Welt? Es ist acht Uhr früh, Lea Bonasera sitzt auf dem kalten Asphalt der A114, da, wo die Autobahn im Norden von Berlin in eine Bundesstraße übergeht. Der Geruch von Erdöl und Abgasen ist in der Luft, auf Augenhöhe hat die 24-Jährige Autos. Ihre Hand hat sie mit Superkleber an die Straße gepappt, in der anderen hält sie ein Banner. „Aufstand der letzten Generation“ steht dort Rot auf Schwarz, genauso wie auf ihrer FFP2-Maske. Die Gruppe nennt sich so, weil sie sich als die letzte Generation begreift, die die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels noch aufhalten könne. Dazu blieben ihnen, so sagen sie, noch drei Jahre – dann sei es zu spät. Schmelzende Polkappen, Hochwasser, 3,5 Milliarden Klimaflüchtlinge weltweit würden die Folge sein. Deshalb blockiert Lea gemeinsam mit vier anderen Aktivisten der „Letzten Generation“ die Straße, das Ergebnis: ein 45-minütiger Stau.

Am Vorabend der „Störaktion“ – so nennen die Aktivisten das Besetzen der Straße für ihren guten Zweck – ruht sich Lea in einer Wohnung in Berlin-Friedrichshain aus. Nein, es handelt sich nicht um ein besetztes Haus, in dem Antifa-Flaggen hängen und sich bekiffte Studenten einen Joint reichen.

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Stattdessen: Parkettboden, Flatscreen, schwarze Ledersofas. Auf der Küchenzeile liegen Obst und Vollkornprodukte. Das Airbnb-Apartment wurde extra für den Zeitraum der Straßenblockaden angemietet, damit die Klimaschützer einen Rückzugsort haben. Viele kommen nämlich nicht aus Berlin. So wie Lea, die ursprünglich aus einem kleinen Ort bei Bielefeld stammt. Finanziert wird die Wohnung durch Spenden. Die Unterstützer brauchen einen langen Atem. Die „Letzte Generation“ will so lange Straßen blockieren bis Olaf Scholz ein „Essen-Retten“ – Gesetz erlässt, das Supermärkte dazu verpflichten soll, Lebensmittel zu spenden, die noch gegessen werden können, anstatt sie wegzuwerfen. Doch den Aktivisten geht es noch um mehr, um viel mehr: „Das Essen-Retten-Gesetz ist nur der erste Schritt einer langen Reise“, erklärt Lea.

„Es geht darum, ein komplett neues System zu leben, neue Formen der Demokratie zu entwickeln.“ Lea, die neben ihrem Einsatz für den Klimaschutz eine Doktorarbeit über zivilen Ungehorsam schreibt, ist enttäuscht von dem politischen System, weil es „um Lobbyinteressen geht und darum, wiedergewählt zu werden“.

Ein neues System soll das alte ablösen

Die 24-Jährige möchte, dass so ein Gremium wie der sogenannte „Bürgerrat“ nicht nur angehört wird, sondern zu einem  verbindlichen Element wird, dessen Forderungen Politiker umsetzen müssen. Auch für ihre persönliche Zukunft hat die Studentin alternative Vorstellungen. Früher wollte sie Professorin werden und den Studiengang „Liberal Arts and Science“, in dem sie selber einen Bachelor von einer Universität in Amsterdam hat, nach Deutschland holen. Sie hat sich vorgestellt, mehrere Kinder zu bekommen, da sie selbst ein Einzelkind ist.

Diese Ziele haben sich in den letzten drei Jahren grundlegend verändert. Lea sieht es als eine Notwendigkeit an, künftig in Wohngemeinschaften zu leben und Selbstversorger zu sein. „Damit man in der Notfallsituation, in die wir kommen werden, gut ausgerüstet und nicht abhängig ist“, erklärt sie. Sie hadert mit sich, ob sie es verantworten kann, in die „schlimme Welt“, auf die die Menschheit laut der „Letzten Generation“ zusteuert, Kinder zu setzen. Diese „schlimme Welt“, die laut einiger Klimaforscher auf uns zukommt, beschreibt Lea so: „Meine Eltern könnten an Hitze sterben, meine Cousinen, die am Wasser wohnen, müssen wegen Überflutung wegziehen. Es wird Ernteausfälle geben und wir werden nichts Richtiges mehr zum Essen haben.“ Sie werde mit jedem Tag pessimistischer, was die Zukunft betreffe.

Leas täglicher Begleiter ist Schuld. Schuld gegenüber dem armen Kängurubaby, das während der Waldbrände in Australien verbrannte. Sie hatte das Foto, das um die Welt ging, beständig vor Augen, als sie vor der Bundestagswahl mit anderen der „Letzten Generation“ in den Hungerstreik trat. „Wenn ich das nur für dich mache – das arme Ding muss wegen uns Menschen leiden – dann hat sich das schon gelohnt“, schoss es ihr damals durch den Kopf. Schuld empfindet die Aktivistin auch gegenüber den Menschen aus den Ländern des globalen Südens. „Ich schäme mich oft dafür, was wir verantworten als Land“, gibt sie zu. Damit meint sie Deutschlands Rolle als Mit-Verursacher der globalen Klimaerwärmung, die jetzt schon dazu beitrage, dass in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern Dürre, Hungersnot und Überflutungen herrsche. Für die Milliarden Menschen zu kämpfen, die wegen Deutschland leiden, das ist Leas Motor.

Über Veganismus und Tierschutz zum Klimaaktivismus

Auf der Straße links neben Lea sitzt Christian. Er ist über 40 und hat zwei Töchter. Damit er sich an den Störaktionen beteiligen kann, hat der Physiker seinen Job in der IT-Branche auf 16 Stunden reduziert. Seit vielen Jahren schon brennt er für Umwelt- und Klimaschutz und ernährt sich vegan. Lea erzählt, dass sie über den Veganismus und den Tierschutz zum Klimaaktivismus fand. Und über ihre Uni in Amsterdam, die „sehr grün ist“. Dann lernte sie in Oxford, wo sie ein Masterstudium in „Internationalen Beziehungen“ belegte, die zivile Widerstandsbewegung „Extinction Rebellion“ kennen und schloss sich ihnen an. Es handelt sich um die Gruppe, die die ehemalige Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth 2019 im „Spiegel“ als „esoterische Weltuntergangssekte“ bezeichnete. Auch auf Twitter fand die Autorin einer Ulrike Meinhof-Biografie 2020 harte Worte: Dort nannte sie die Bewegung eine „ökorassistische, rechtsesoterische Sekte mit hohem antisemitischem Potenzial“.

Aufstand der letzten Generation
Foto: Emauela Sutter | Um acht Uhr früh starten die Aktivisten ihre sogenannten Störaktionen für Klimaschutzgesetze.

Lea und Christian kommen einem nicht wie Rassisten, Rechts- beziehungsweise Linksextreme vor. Eher das Gegenteil ist der Fall: Sie wirken nett, lieb, harmlos. Lea spricht schnell, man merkt, dass sie Interviews und Fragen gewohnt ist. Dabei bleibt sie aber immer ruhig und höflich.

Esoterisch ist die Studentin auch nicht. Sie bezeichnet sich als atheistisch, wuchs ohne Religion auf. Allerdings hat sie in letzter Zeit die Erfahrung gemacht, dass sie gerade dann, wenn sie alleine auf der Straße sitze, etwas brauche, wo sie sich „gute Energien“ holen kann. „Ich weiß nicht, ob ich das als Gott definieren würde, mit dem ich da eine Beziehung aufbaue“, sinniert sie weiter. Sie denke dann an Menschen, die vor ihr in Widerstandsbewegungen aktiv waren und versucht, sich mit ihnen zu verbinden. Wenn sich die Zeit auf der Straße zieht, fängt sie manchmal an, Gospellieder zu singen: „This little light of mine.“ Viele dieser Lieder wurden im Widerstand gegen die Apartheid gesungen.

Lea wird mit jedem Tag pessimistischer

Dann holt Lea aus ihrem Jutebeutel ein Buch, der Titel: „Handelt! Ein Appell an Christen und Kirchen, die Zukunft zu retten“. Autor ist der Jesuitenpater Jörg Alt. Er war schon bei einer internen Pressekonferenz der „Letzten Generation“ über Zoom in der Woche vor den Störaktionen dabei und hat dort auffallend viel moderiert und angemerkt. Der in Nürnberg lebende Sozialethiker übt sich auch im „zivilen Ungehorsam“,  er kämpft vor  allem für ein Lebensmittelrettungsgesetz. Er unterstützt die Anliegen von „Fridays for Future“ und eben von „Aufstand der letzten Generation“, sich selbst bezeichnet er als „Berater, Freund und Kollege von einzelnen Personen“ der Szene. Gegenüber dieser Zeitung berichtet er, dass das Treffen der Hungerstreikenden mit Robert Habeck und dann mit Olaf Scholz auf seine Vermittlung zurückzuführen sei. Der Pater lud auch Lea dazu ein, im April bei einem internationalen Treffen der Jesuiten zu sprechen.

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Obwohl ihm bewusst ist, dass zwischen ihm und der „Letzten Generation“ weltanschaulich Welten liegen. Kirche interessiere die jungen Leute gar nicht und Jörg Alt sieht es auch nicht als seine Aufgabe an, ihnen den christlichen Glauben näher zu bringen. „Das wäre eine unlautere Verzweckung von etwas Wichtigem“, meint er. Das Feuer, an dem sich beide Seiten wärmen, der Pater und die Aktivisten, ist das Zitat von Papst Franziskus: „Diese Wirtschaft tötet“. Die Frage, ob die Klimaschutzbewegung religiöse Züge annehme oder gar zur Ersatzreligion werde, beschäftigt Jörg Alt. Das Problem sieht er bei der „verkopften“ westlichen Theologie. Die Trennung zwischen Sakralem und Profanen habe die Menschen schon vor der Klimabewegung in die Arme von Esoterikern getrieben. Daran würden besonders junge und sensible Menschen leiden. Eine mögliche Lösung sieht der Jesuitenpater in der „Wiederentdeckung“ und „Wiederspiritualisierung“ der Welt durch christliche Theologen. Sein Fazit: „Der Klimaaktivismus bietet Ersatz für Defizite. Junge Menschen vermissen in den christlichen Kirchen vor allem gelebte Solidarität mit allem Lebendigen und eine entsprechende Schöpfungsspiritualität."

Mittlerweile ist es zehn Uhr dreißig. Die Polizisten haben die angeklebten Hände von Lea, Christian und deren Mitstreitern mit Öl bepinselt. Nach einer halben Stunde Einwirkzeit haben sie sich von der Straße gelöst. Auf die Polizeiwache werden die Vertreter der „Letzten Generation“ nicht mitgenommen. Spätestens am Nachmittag,  des nächsten Tages werden sie wieder angekleistert auf einer Straße sitzen – damit die Welt aus ihrer Sicht gerechter und ihre Schuld ein Stück kleiner wird.

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