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Kennen wir sie jetzt?

Angela Merkel erklärt ihre Kanzlerschaft: Die erste öffentliche Lesung von „Freiheit“ nährt den Verdacht, dass hinter der kühlen Fassade nicht mehr stand als der Wille zur Macht.
Buchpremiere von Angela Merkels "Freiheit"
Foto: IMAGO/Bernd Elmenthaler (www.imago-images.de) | 700 Seiten für 42 Euro: "Freiheit". Die Rückkehr Angela Merkels in die Öffentlichkeit eröffnet noch einmal die Chance, über Grundsätzliches Nachzudenken - also genau das zu tun, was in der Merkel-Ära gefehlt hat.

Liegt es in der Natur des Menschen, zu Idolen aufschauen zu wollen? Liegt es in der deutschen Kultur, der bekanntlich seit kaiserlichen Zeiten eine Affinität zum Untertanengeist nachgesagt wird? Nach zwei Stunden brandete am Dienstagabend im voll besetzten Deutschen Theater in Berlin der letzte, finale Applaus auf – Standing Ovations gewährten die Zuschauer der Frau, die sie 16 Jahre regiert hatte. Wofür? Angela Merkel ist mit ihrer Autobiographie auf Tournee. Die Mission: der Nachwelt die Interpretation ihrer Kanzlerschaft nicht kampflos zu überlassen. Offenbar kann sie sich dabei auch drei Jahre nach ihrem Abtritt auf treue Fans verlassen.

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Denn sonderlich unterhaltsam war die Kombination aus Lesung und Interview (mit Anne Will) trotz frenetischen Szenenapplaus' bei jeder halbwegs gelungenen Formulierung der Kanzlerin eigentlich nicht. Lange blieb Will, die mit der Einschätzung, es handle sich bei Merkels „Freiheit“ um ein „irrsinnig präzise gearbeitetes Buch“ begann, einem emotional-schmeichelhaften Plauderton verhaftet. Die menschliche Merkel, die mit 18 „besoffen“ in einen Baggersee fällt (Merkel interveniert – kein Baggersee, ein „uckermärkischer feiner See“, freundliches Gelächter), die DDR-betroffene Merkel, die die Toleranzgrenzen des Systems erspüren musste (Merkel: „konnte immer in den Spiegel schauen“), ihre Unbekümmertheit, die die DDR der späteren Kanzlerin trotz allem nicht nehmen konnte, hach ja.

Lösungen statt reiner Wein

Zum ersten Mal halbwegs interessant wird es, als Will Merkel mit den Ereignissen der Wendezeit konfrontiert. An den Demonstrationen nahm die nach der Wende sehr schnell politisch aktive Merkel nie teil. Wieso? War sie, die Unbekümmerte, auch unpolitisch? Merkel reagiert fast etwas pampig. „Dem würde ich ja wirklich total widersprechen“, sehr politikinteressiert sei sie gewesen, habe sich mit Freunden viel über den Staat DDR aufgeregt. Will legt, thematisch stimmig, nach: Man habe ihr später nachgesagt – die Mehrheiten immer im Blick – den Deutschen nichts zumuten zu wollen. Das sei ja wohl nichts Falsches in der Demokratie, antwortet Merkel.

Doch die unausgesprochene tiefere Frage bleibt hängen: Hat sich die Kanzlerin immer am Opportunen, am Durchsetzbaren orientiert, weil es ihr, der Unbekümmerten, am Ende doch an einer übergeordneten politischen Vision, an intellektuell durchdrungenen Grundüberzeugungen mangelte? Merkel selbst gibt der Vermutung noch Nahrung, als sie durchblicken lässt, dass die von außen beizeiten herangetragene Vermutung, sie als Ostdeutsche habe vielleicht nicht wirklich verstanden was „Freiheit“, was „unsere Werte“ seien, sie nachhaltig „empört“ hätte.

Das Gespräch gleitet nach einem zu kurzen Exkurs zum September 2015 („Für mich ging es nicht um einen [Flüchtlings-]Strom, sondern um Menschen“) wieder über in gefühligere Themen. Merkel als potentiell diskriminierte Ostdeutsche, Merkel als Frau. Merkel als Machtmensch? Die Altkanzlerin ziert sich, räumt aber einen gewissen Ehrgeiz ein. Friedrich Merz gönne sie die Kanzlerschaft, weil der, wie sie, den unbedingten Willen zur Macht habe.

Tatsächlich aufschlussreich geraten Merkels Ausführungen zu Wolfgang Schäuble. Der habe es für richtig gehalten, den Bürgern gerade zu den Belastungen im Zusammenhang mit Merkels Flüchtlingspolitik „reinen Wein einzuschenken“, zitiert Will dessen Autobiographie. Ob sie das tatsächlich zu wenig getan habe? Dieser Punkt habe eben sie und Schäuble immer unterschieden, antwortet Merkel. Schäuble sei tatsächlich immer der Überzeugung gewesen, man müsse den Menschen „reinen Wein einschenken“. Sie hingegen sei immer der Meinung gewesen, man müsse „die Probleme lösen“ – weshalb sie dann im Fall der Flüchtlingspolitik das EU-Türkei-Abkommen verhandelt habe. „Es hat keinen Sinn, jetzt jeden Tag wie so eine Kassandra herumzulaufen und zu sagen, das wird aber jetzt ganz schlimm, ich muss es einfach durchsetzen“. Das habe sich auch in der Coronapandemie bewahrheitet.

„Tu ich Ihnen Unrecht?“ „Ich finde schon“, antwortet Merkel

Will, die sich jetzt doch auf primär politische Fragen fokussiert, lässt größere Fehlentwicklungen der Merkel-Ära mehr oder weniger kritisch Revue passieren. Aufstieg der AfD, kaputte Infrastruktur, zuletzt die Russlandpolitik – muss dafür nicht auch die Frau verantwortlich sein, die das Land 16 Jahre führte? Während Sie in ihrem Buch kleine Fehler zugebe, würden große nur benannt. „Tu ich Ihnen Unrecht?“ „Ich finde schon“, antwortet Merkel. Immerhin habe sie doch bekannt, viel zu wenig für das Klima getan zu haben. Und außerdem: Nord Stream 2, die verschlafene Aufrüstung, die Blockade des Nato-Beitrittsprozesses für die Ukraine, all das seien in der jeweiligen Situation keine falschen Entscheidungen gewesen, meint Merkel – zumindest sei eine andere Politik nicht gegen die SPD und auch gegen den Widerstand der Grünen durchsetzbar gewesen. „Das heißt, Sie bereuen nichts?“, fragt Will mit Bezug auf das durchgeboxte Pipelineprojekt. „Ich persönlich halte es auch im Rückblick für keinen Fehler“. Den Kotau vor der gewandelten öffentlichen Meinung will Merkel nicht vollziehen.

Was also bleibt von der „Sphinx“? Angela Merkels gerade angelaufene Mission der Selbst(v)erklärung wartet durchaus mit Erkenntnissen auf. Man darf der Altkanzlerin wohl abkaufen, was sie über ihr politisches Wirken sagt: Ihre Motivation war das unbedingte Streben nach Macht. Ihre Methode war das technische Management dessen, was politisch erreichbar schien. Ihr Bild von Demokratie beinhaltete zwar das Schielen auf den Mehrheitswillen – nicht aber den offenen Diskurs. Hinterzimmer-Lösungen statt reiner Wein, letztlich eine Politik, die den Bürger mit jeglicher Diskussion darüber, was warum angestrebt werden soll, verschont. Hat Angela Merkel Freiheit, hat sie die westlichen demokratischen Werte wirklich begriffen? Dem wohl nicht ironisch gemeinten Buchtitel zum Trotz bleibt nach Antritt ihrer Erklärungsmission mehr als je zuvor fraglich, wie sehr sich Merkel während ihrer Karriere überhaupt mit grundsätzlichen Erwägungen aufgehalten hat. Geschadet hat es ihr bekanntermaßen nicht: Vier Wahlen gewann die Politikmanagerin.

Ein Argument für den Kauf ihres satte 42 Euro teuren Buches war diese erste Lesung in Berlin eher nicht. Und doch kann es nicht schaden, die Merkel-Jahre nochmal gründlich zu bedenken. Was wollen wir eigentlich? Nach 16 Jahren geistiger Demobilisierung wacht Deutschland politisch gerade erst auf. Dass Merkel mit dem Kampf um ihre Rezeption zwar vielleicht nicht das anwesende Publikum in Berlin, aber dafür doch eine breitere Öffentlichkeit nochmal zum Nachdenken anregt, immerhin das kann als eine Art (zu) später Verdienst interpretiert werden.

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