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Hubert Aiwanger: Der Volkstribun

Hubert Aiwanger präsentiert sich als Anwalt des kleinen Mannes. Die Flugblattaffäre hilft ihm dabei noch. Szenen eines Wahlkampfabends.
Aiwanger in Adelsried
Foto: Jakob Ranke | Volle Hütte, ernste Miene: Hubert Aiwanger weiß zu unterhalten.

Es ist schwül an diesem spätsommerlichen Dienstagabend in Adelsried, einer ländlichen 2.000-Seelen-Gemeinde im Kreis Augsburg. Später soll es noch gewittern, der Himmel ist schon dunkel bewölkt. Kirchenglocken läuten zur Abendmesse; vor der Sakristei beobachtet ein Ministrant die weißhaarige Dame, die ihren Rollator den Weg zur barocken Dorfkirche heraufschiebt.

Ein paar hundert Meter weiter: Statt Andacht gespannte Erwartung. In der alten Scheune des örtlichen Landtags-Direktkandidaten der Freien Wähler biegen sich die Biertische unter dem Gewicht der Maßkrüge. Rund 1.000 Menschen sind gekommen, die Schlange vor dem Ausschank windet sich bis zur Hofeinfahrt. Alle wollen sie jetzt, kurz vor der Landtagswahl, den bayerischen Umfrage-Shootingstar sehen: Hubert Aiwanger. Noch allerdings müssen sich die Gäste etwas gedulden: der Staatsminister hat Verspätung. Die Band stimmt schon Mal „unser bayerisches Gebet“ an: Ein Prosit der Gemütlichkeit. Das „Eins, zwei, gsuffa“ verkneifen sich die Musiker; schließlich soll es erstmal noch um Politik gehen.

In der "Heimat des gesunden Menschenverstands"

„Ihr seid dorthin gekommen, wo nicht drüber diskutiert wird, was möglicherweise vor 40 Jahren auf einem niederbayrischen Schulklo passiert sein soll, sondern wo die Zukunft unseres Landes diskutiert wird“, begrüßt nach 45 Minuten heimeliger Livemusik im Bayern-1-Stil schließlich Fabian Mehring die jubelnden Zuhörer. „Herzlich willkommen in der Heimat des gesunden Menschenverstands!“

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Mehring, 34 Jahre alt und parlamentarischer Geschäftsführer im bayerischen Landtag, steht Aiwanger rhetorisch nicht viel nach. Während der sich bei Auftritten auf Wahlkampfinhalte konzentriert, resümiert Mehring als Apologet des Parteichefs genüsslich den Verlauf der „Flugblatt-Affäre“: „Schmutzkampagnen gehen nach hinten los!“ „Weil nach 40 Jahren, überraschenderweise und völlig zufällig sechs Wochen vor Wahlen, am Tag des Aussendens der Briefwahlunterlagen in Bayern, ein SPD-Lehrer Dinge anonym an die Süddeutsche Zeitung gebracht hat“, stünde nun gleich „einer der beliebtesten Politiker in ganz Deutschland“ hier auf der Bühne. Jubel und hymnisches Klatschen. Das Naturschauspiel kann beginnen.

Aiwanger betritt die Bühne mit halb vollem Maßkrug in der Hand. „Das ist Demokratie, wie es sich der freie Wähler wünscht!“, ruft der Niederbayer in den Stadel. Über die Probleme vor der Haustür müsse man reden, „nicht in irgendwelchen elitären Politikrunden, sondern draußen am Tisch mit den Leuten Auge in Auge diskutieren“, formuliert Aiwanger in gedehnten Silben, ehe er erstmals das Tempo erhöht. „Wir wollen keine Ideologien, wir wollen keine Grünen!“ „Was haben wir die letzten Jahre aushalten müssen als Gesellschaft“, befindet der stellvertretende Ministerpräsident. In einer Salamitaktik sei versucht worden, das Hintere nach vorn und das Obere nach unten zu drehen. „Die Menschen sollen kein Fleisch mehr essen, nicht mehr Auto fahren, nicht mehr in den Urlaub fahren, keine Kinder mehr kriegen, und möglichst wenig atmen, dass sie kein CO2 ausstoßen.“ Nun müsse die Gesellschaft wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Respekt gebühre etwa den bayerischen und deutschen Bauern, den „wahren Umweltschützern“. An denen habe sich die Politik in letzter Zeit derart versündigt, dass man dafür „zehn Jahre Beichtstuhl“ ansetzen müsse. Schon er selbst, sagt der studierte Landwirt unter Applaus, habe „mehr Bäume gepflanzt als die gesamte grüne Bundestagsfraktion“. Und überhaupt: Wenn die Grünen so viele Nistkästen aufgehängt hätten wie er bereits im Grundschulalter, dann bräuchten die Spatzen nicht in ihrem Hirn zu nisten. „Hubert, Hubert“, schallt es durch den Saal.

Von den Bauern zum verleumdeten "alten weißen Mann"

Von den Bauern geht es im Schweinsgalopp zum verleumdeten „alten weißen Mann“, von der erfolgreichen Abschaffung der Straßenausbaubeiträge in Bayern zur verfehlten Migrationspolitik der Bundesregierung, von der Forderung nach der Abschaffung der Erbschaftssteuer zur drohenden chinesischen Konkurrenz auf dem Weltmarkt für Verbrennungsmotoren und Schweinefleisch, von der Inflation zur „überzogenen politischen Korrektheit“. Es könne nicht sein, dass „junge, gesunde, arbeitsfähige Leute“ Bürgergeld bezögen. Eher müsste Einkommen bis 2.000 Euro steuerfrei gestellt werden. An anderer Stelle wirbt Aiwanger für mehr Staat: „Was ist denn besser geworden, seit der Postbote nicht mehr verbeamtet ist, seit der Lokführer nicht mehr verbeamtet ist? Früher hat's geheißen ,pünktlich wie die Eisenbahn'. Der beamtete Lokführer war stolz und hat pünktlich seinen Zug einfahren lassen.“

In so ziemlich jeder Hinsicht, so viel wird klar, sieht Aiwanger Deutschland und Europa, getrieben von einer „grünen Weltuntergangspolitik“, aktuell auf dem falschen Weg; zum Glück stemme sich Bayern mit seiner bürgerlichen Regierung als Bollwerk gegen die Zumutungen aus Berlin und Brüssel. Wiederkehrendes Motiv im Aiwanger'schen gesunden Menschenverstand bleibt die Verteidigung der guten, alten Verhältnisse gegen den grünen Zeitgeist: „Hätten unsere Eltern und Großeltern nicht dieses Land aufgebaut, dann hätten diese Leute kein Dach über dem Kopf, und wenn sie die Straßen nicht geteert hätten, hätten sie (die Aktivisten der letzten Generation, d. Red.) nicht einmal die Möglichkeit, sich dort hinzukleben!“ Überhaupt wolle man nicht alles „so ideologisch aufgeladen, dass man am Ende schon einen Notartermin braucht, bevor man einer Frau ein Kompliment machen darf, damit man nicht missverstanden wird“. Die „normale Denke, die doch jeder draußen so vertritt“, dass die ab einer gewissen Ebene in der Politik plötzlich verschwinde, um nicht anzuecken, da wundere er sich. Es brauche eine Trendwende: „Ein Politiker muss wieder das sagen dürfen, was das normale Volk denkt, und nicht das, was linke Politeliten vordenken!“

Aiwangers Empörung ist echt

Während sich im Publikum Jung und Alt von Aiwangers Kalauer-Feuerwerk bestens unterhalten fühlen, spiegelt dessen Miene über die vollen 50 Minuten seiner frei gehaltenen Rede ehrliche Empörung. Die grüne Selbstgerechtigkeit erinnere ihn an die DDR. Man brauche keine Arroganz „nach dem Motto: mit dem kleinen Volk reden wir nicht mehr“. Die Freien Wähler dagegen seien selbst das kleine Volk. Und übrigens: „Demokratie heißt, das kleine Volk entscheidet.“ Aiwanger schließt mit einem Wahlaufruf: „Unterstützen Sie uns, damit wir Sie unterstützen können! Wir sind nicht die fremden eingeflogenen Politfunktionäre, sondern wir sind Menschen aus der Mitte der Bevölkerung! Ich geh jetzt dann da noch runter, setz mich unter euch, und hör mir eure Sorgen und Nöte an. (…) Gott beschütze euch, alles Gute, vielen Dank fürs Zuhören.“

Draußen ist der Regenguss inzwischen zum Erliegen gekommen. Unter „Zugabe“-Rufen steigt Aiwanger vom Redepult – und bleibt nach der obligatorischen Bayernhymne tatsächlich noch gut eine Stunde vor Ort, um sich Nöte anzuhören und auf unzähligen Selfies ins Bild zu lächeln, bevor er mit Personenschützern und Assistenten in einem wasserstoffgetriebenen BMW-SUV über die feuchten, gut geteerten bayerischen Straßen in die Nacht verschwindet.

Einige Tage später, ein Anruf bei Fabian Mehring. Wie kommt es, dass Aiwanger mit dem Kampf gegen Ampelregierung und grünen Zeitgeist hausieren geht, statt auf Landesthemen zu setzen? Eine Konsequenz der politischen Großwetterlage, meint Mehring, und spricht von einer handfesten Richtungswahl. „Es gibt, anders als früher, schon zwei fundamental unterschiedliche Modelle, wie es in Deutschland gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich weitergehen soll. Auf der einen Seite der Ampel-Ansatz, der ja auch – noch – in den 15 anderen Bundesländern mitvertreten wird, und auf der anderen Seite den bayerischen Gegenentwurf dazu, der eher bürgerlich-liberal ausgerichtet ist.“

Wie bürgerlich ist Aiwangers Rhetorik?

Wie bürgerlich aber ist Aiwangers hemdsärmelige Rhetorik? Haben seine Gegner nicht recht, wenn sie ihm Populismus vorwerfen? Mehring bietet eine andere Deutung an: „Hubert Aiwanger ist eine Identifikationsfigur. Einer, der, wie seit Strauß niemand mehr, die Menschen mitnimmt. Daran ist nichts Negatives. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Das politisch zu vertreten, was die Menschen denken, ist unser Job. Damit binden wir die Menschen in der politischen Mitte.“ Auch deshalb sei die „Gurkentruppe“ von der AfD in Bayern nur halb so stark wie im Bundesdurchschnitt. Mit 17 Prozent im Kreuz war Aiwanger nach Adelsried gekommen. Dabei waren die Umfragengewinne nach der Flugblattaffäre nicht einmal von der AfD gekommen – Federn hatten stattdessen SPD, Grüne und FDP gelassen.

Ist der Erfolg in der Richtungswahl nun nur noch Formsache? Ob er jetzt Aiwanger wähle, wisse er noch nicht, meint ein Besucher nach dem Auftritt in Adeslried. Zuletzt hatte er sich, frustriert über das politische Angebot, einer chancenlosen Kleinpartei angeschlossen. Ganz kalt gelassen hat ihn Aiwangers Werben jedenfalls nicht: „Mir“, meint der Kleinunternehmer, „hat er teilweise schon aus der Seele gesprochen.“

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