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Georgiens enttäuschte Hoffnungen

Georgien fühlt sich von Russland in den Zangengriff genommen. Wut herrscht aber auch über die westliche Russland-Politik der Vergangenheit. Ein Stimmungsbild.
Demonstranten in Georgien
Foto: Shakh Aivazov (AP) | Sorge vor einer russischen Aggression ist in Georgien nicht neu. Und auch die Warnungen nicht, welche Gefahren von Wladimir Putin und seinem Regime ausgehen können.

Der 24. Februar hat in Georgien niemanden überrascht. Der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine steht für die Georgier in einer Linie mit anderen Ereignissen, die die aktuelle Entwicklung hätten vorausahnen lassen können. Man empfindet, wie in so vielen anderen postsowjetischen Staaten, die aktuelle Lage wie ein Déjà-vu.

Georgien ist ein kleines Land, es hat nur  3,7 Millionen Einwohnern. Die Einschätzung von Giorgi Badrize, ein Mitarbeiter der Rondeli-Stiftung, einer Nicht-Regierungsorganisation, die sich mit internationaler Politik befasst, ist typisch für die Sicht seiner Landsleute: Er empfindet diese Tage wie die „Wiederholung eines Drehbuchs“.  „Die Geschichte wiederholt sich immer“, stellt der Wissenschaftler fest.

In der Wiederholungsschleife der Geschichte

Georgien steht im direkten Konflikt mit Russland. Dieser eskalierte 2008, als zum r Schutz der „russischen Bürger“ in den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Ossetien mobilisiert wurde. Russische Militärflugzeuge griffen georgische Stellungen an. Bis heute sind 20 Prozent des Hoheitsgebietes besetzt. Damit konnte Russland auch einen NATO-Beitritt Georgiens blockieren. Der Westen hätte besser Wladimir Putins erste Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 beachten sollen. Niemand fühle sich mehr sicher, denn die USA hätten ihre Grenzen „in allen Sphären überschritten“ – und würden der ganzen Welt ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen. „Nun, wem gefällt das schon?“, fragte er damals mit starrem Blick.

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Georgien kann als herausgehobenes Opfer der westlichen Ignoranz gelten sowie der Illusion, mit Putins Russland Freundesbande knüpfen zu können. Die vielleicht gastfreundlichsten Menschen der Welt fühlen sich vergessen und verraten, junge Studierende träumen davon, über den Fluchtweg Mexiko ein neues Leben in den USA zu beginnen. Mehr als 100.000 fliehen Jahr für Jahr. Im Alltagsleben der Menschen geht es um Arbeitslosigkeit und die steigenden Preise, wie Umfragen zeigen. Die krassen Kontraste zwischen renovierten und zerfallenden Häusern im Stadtbild in der georgischen Hauptstadt Tiflis zeugen von einem sozialen Gefälle, ganz im Schatten der glasartigen Prachtbauten im Zentrum.

Der Hass auf Putin ist mit Händen zu greifen

Die Wut oder besser der Hass auf Russland ist in der Hauptstadt Tiflis mit Händen zu greifen. An vielen Wänden befinden sich Graffitis mit „F… Russland“ oder „F… Putin“. Die Hotelpreise sind nach oben geschnellt, auch, weil sich russische Männer, die nicht in den Krieg ziehen wollen, über Monate hier einquartieren, allein oder mit ihren Familien. Den Frust ertränken sie oft in Alkohol, wie der nächtliche Lärmpegel in Hotelzimmern anzeigt. Nach der ersten Fluchtwelle – das Land hat keine Visumspflicht für russische Staatsbürger – kommen nun auch Investoren aus Russland nach Georgien, die für viele als Besatzer empfunden werden. Auf der anderen Seite braucht man Russland als Handelspartner. Und paradoxerweise ist Georgien das einzige Land auf der Welt, das bislang wirtschaftlich vom Russlandkrieg profitiert.

Die EU kann hier nicht in die Bresche springen, zumal Georgien, anders als zuletzt die kriegsgeschüttelte Ukraine und Moldawien, über keine Beitrittsperspektive verfügt. Nun ist die Tür erst einmal zu, eine Entwicklung, die auch anders hätte kommen können.

Einst galt Georgien nämlich als Vorzeigekandidat für einen EU-Beitritt. Die jüngsten Integrationsbemühungen scheitern an zwei zentralen Punkten: die Oligarchen im Land, die durch den ehemaligen Premierminister Bidsina Iwanischwil symbolisiert werden. Er kam einst aus dem Nichts nach Georgien zurück, mit Milliarden im Gepäck, die er in Russland erworben hatte. Er erfüllt sich bizarre Wünsche, importiert etwa Pinguine und Zebras für seinen Privatzoo und lässt Haie in seinen Palästen herumschwimmen. Die von ihm gegründete und finanzierte Partei „Georgischer Traum“ ist die Regierungspartei.

Die politischen Gegner sind echte Feinde

Ein weiterer Punkt: Die Feindschaft zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern. Gegner der Regierung sind inhaftiert, am prominentesten ist hier Micheil Saakaschwili zu nennen. Der einstige Staatspräsident, später auch Gouverneur in der Ukraine, sitzt, gesundheitlich angeschlagen, im Gefängnis. Einst galt er als Hoffnungsträger und wirkte bei der Europäischen Volkspartei (EVP) mit, dem Verbund der Mitte-Rechts-Parteien in Europa. Vor dem georgischen Parlament demonstrieren immer wieder  einige Aktivisten für seine Freilassung. Direkt daneben pulsiert der Wochenmarkt. Für den Beobachter aus dem Ausland eine seltsame Ambivalenz, für die Georgier ruft die Szene Sehnsucht nach einer verloren gegangenen Normalität wach.

Trotz dieser Probleme, versucht sich Georgien auch immer noch als touristisches Reiseziel in Szene zu setzen: Wer von den zahlreichen Reiseangeboten Gebrauch macht und das Land mit seinen kulinarischen Spezialitäten wie Chinkali sowie seiner märchenhaften Lage an den Südhängen des Kaukasus und am Schwarzmeerstrand erkundet, sieht beeindruckende Klöster, die Ausdruck der christlich-orthodoxen Kultur sind. In Georgien treffen sich die Weltreligionen Judentum, Islam und Christentum auf engstem Raum. In der Altstadt von Tiflis lässt sich die religiöse Vielfalt besonders eindrucksvoll erleben, christliche Kirchen, Synagogen und Moscheen stehen beinahe Tür an Tür. Eine besondere Verehrung erfährt hier der oft als Drachenkämpfer dargestellte Heilige Georg, nach dem das Land in der Kreuzritterzeit benannt wurde.

Der Schatten von Josef Stalin

Der wohl berühmteste Georgier aber ist immer noch oder vielleicht auch gerade jetzt schon wieder: Josef Stalin, geboren in Gori, hat maßgeblichen Anteil daran, dass aus dem reichhaltigen antiken Erbe  seiner Heimat ein düsteres 20. Jahrhundert und nun auch offenbar auch 21. Jahrhundert wurde. In einem Touristenladen nahe der Mzcheta-Klöster kann man Stalin-Socken und andere Souvenirs mit dem Abbild des Massenmörders kaufen. Georgien ist offenbar jenseits von Stalin und Putin kaum vorstellbar. Europa muss Georgien eine Integrationsperspektive schaffen. Sonst verwandelt sich das Land in eine Enklave für geflüchtete Russen. Vom Gesprächspartnern aus der Politik hört man, dass eine „Russifizierung“, vor allem von Nichtregierungsorganisationen betrieben, bereits in vollem Gange sei.


Der Autor arbeitet und lehrt als Politikwissenschaftler und Publizist. Er besuchte Ende November die georgische Hauptstadt Tiflis im Rahmen einer Delegationsreise.

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