Nach einem Jahr Krieg stehen die beteiligten Mächte und Gewalten wieder einmal an einem Scheideweg: Überraschend ist Joe Biden gestern mit dem Zug aus Polen in Kiew eingetroffen, um dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die ungebrochene Solidarität der Vereinigten Staaten zuzusichern – mit einer halben Milliarde Dollar an zusätzlicher Militärhilfe in der Tasche. Heute wird sich Wladimir Putin vor der russischen Duma erklären, und noch am Abend wird ihm der amerikanische Präsident von Warschau aus antworten, während der chinesische Außenminister Wang Yi bereits in Moskau eingetroffen ist. Dem italienischen Außenminister Antonio Tajani hatte er auf der Münchener Sicherheitskonferenz zugesichert, dass er Putin in Moskau einen Friedensplan vorlegen werde, weil China verhindern wolle, dass „der Krieg noch lange dauert“. Am Freitag schließlich wird auch der chinesische Staatschef Xi Jinping eine Rede halten. Spätestens dann wird man wissen, in welche Richtung es auf dem Scheideweg weitergeht: in Richtung Waffenstillstand und Verhandlungen – oder in die Richtung einer weiteren Eskalation.
Was denkt Putin?
Bei seiner Rede in Kiew hatte Biden daran erinnert, dass ihn Selenskyi vor einem Jahr nach dem russischen Überfall darum gebeten hatte, eine Koalition von Staaten vom Atlantik bis zum Pazifik zu bilden, um der Ukraine militärisch, wirtschaftlich und humanitär zu helfen. „Diese Unterstützung hält an, wir haben die Demokratien der Welt vereinigt“, sagte Biden. Nicht ohne Stolz zog Selenskyi in Kiew die Bilanz: „Russland wollte uns von der Landkarte tilgen, aber ist gescheitert. Moskau verliert damals besetzte Gebiete, die Soldaten fliehen, nicht nur aus der Armee, sondern aus Russland selbst. Wir sind vereint geblieben, die NATO ist kompakt, Putin hat uns nicht getrennt, er glaubte, uns zu schlagen zu können, aber ich meine, das denkt er jetzt nicht mehr... Nur Gott weiß, was er denkt.“
China als schwache Hoffnung
Ob Putin überhaupt noch denkt, oder nur noch wütend reagiert, ist eine entscheidende Frage. Morgen weiß man mehr. Wichtiger aber ist, was Xi Jinping denkt. Nicht die Türkei, auch nicht die UNO oder der Papst haben eine realistische Möglichkeit, Verhandlungen zu erzwingen. Das kann nur China. Vorausgesetzt, dass das Reich der Mitte nicht nur Russland, sondern auch den Amerikanern einen Vorschlag macht, wie eine Friedensordnung in der Welt aussehen könnte – die einen Putin überdauert. Die Chinesen sind Händler und Kaufleute. Und Kriege zerstören die Märkte und die Kaufkraft möglicher Kunden. Es ist eine schwache Hoffnung, zumal China selber etwas auf dem Speisezettel stehen hat, was es sich einverleiben möchte: Taiwan. Aber nach einem Jahr Krieg, in dem die Ukraine ihre eigenen Waffen aufgebraucht hat und das Land zum Schauplatz eines Stellvertreterkriegs zu werden droht, hängt man auch schwachen Hoffnungen nach.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.