Die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ warf Präsident Wladimir Putin die Unterdrückung von Kritikern und Oppositionellen vor. Als sollte dieser Vorwurf amtlich bewiesen werden, wurde „Memorial International“ am Dienstag vom Obersten Gericht in Moskau aufgelöst. Am Mittwoch wurde auch das Memorial-Menschenrechtszentrum in Moskau geschlossen. Was in Gorbatschows Sowjetunion 1988 als erste nichtstaatliche Organisation gegründet werden durfte, hat im Russland Putins 2022 keinen Platz mehr.
Vergangenheitsbewältigung unerwünscht
Das ist ein deutliches Zeichen, weil es sich bei Memorial um eine international renommierte, einst unter Mitwirkung des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow gegründete, vom Staat unabhängige Organisation handelt, die sich der Bewältigung der sowjetischen Vergangenheit widmet. Doch solche Vergangenheitsbewältigung ist im heutigen Russland unerwünscht: Memorial schaffe das „lügenhafte Bild der Sowjetunion als eines Terrorstaates“, lautete einer der Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, deren Antrag die Richterin erwartungsgemäß folgte.
Die paranoide Terrorherrschaft Stalins, der kommunistische Repressionsapparat, unter dem Millionen litten, das System der Arbeits- und Straflager, alle roten Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen sollen offenbar das verklärte Geschichtsbild, das der Kreml seit Jahren zeichnet, nicht länger trüben. Eine Stimme der historischen Wahrheit wurde darum als störend identifiziert – und nun zum Schweigen gebracht.
Ein Schlag, der sich angedeutet hat
Angedeutet hat sich dieser Schlag bereits länger: Laut dem Gesetz über ausländische Agenten müssen private Körperschaften, die aus dem Ausland Spenden oder andere finanzielle Zuwendungen erhalten, in allen ihren Publikationen sowie im Internet sich selbst als „ausländischer Agent“ deklarieren – oder präziser: diffamieren. Das habe Memorial nicht immer oder nicht ausreichend getan, argumentierte die russische Staatsanwaltschaft. Das Gesetz ist eine doppelte Falle: Es diskreditiert Nichtregierungsorganisationen, die Gelder aus dem Ausland beziehen, und macht sie zugleich abhängiger vom Wohlwollen des russischen Staates.
Der Vernichtungsschlag gegen die Menschenrechtsorganisation Memorial hat das Regime von Wladimir Putin neuerlich demaskiert – wie zuvor der Umgang des Staates mit Alexej Nawalny. In beiden Fällen dürfte Putin die internationale Kritik einkalkuliert haben. Und in beiden Fällen ist seine Botschaft an alle Oppositionellen, Kritiker und unabhängigen Denker im eigenen Land eindeutig: Der Kreml-Chef fühlt sich an keine Spielregeln oder Menschenrechtsnormen gebunden, und er kann alle internationalen Proteste ignorieren. Wer in den Chor seiner Lobsänger nicht einstimmt, ist im Russland von heute vogelfrei.
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