Inflation, Krieg, Folgeschäden der Pandemie – mag ja alles sein. In dieser Woche ließ man sich in der Hauptstadt von den drängenden Problemen der Gegenwart nicht aus der Ruhe bringen, sondern setzte ganz auf Retro. Wir machen es uns gemütlich. Das Biedermeierzimmer der Republik wurde am Dienstag im Berliner Ensemble eingerichtet mit Angela Merkel als Stargast. Mutti ist wieder da, lautete die Botschaft.
Mutti ist da
Und wenn Mutti noch da ist, kann doch alles gar nicht so schlimm werden. Ein Wohlfühltermin für die Alt-Kanzlerin. Aber noch mehr für ihr Publikum. Angela Merkel kann schließlich nichts dafür, dass Spiegel-Journalist Alexander Osang, der das Gespräch führte, keine kritischen Fragen stellte. Und so erfuhr der Zuschauer weniger über Angela Merkel, sondern mehr über die offenbar gar nicht so kleine Gruppe von Menschen, die jetzt schon in der Mutti-Ära die „gute alte Zeit“ sehen. Im Grunde wurde hier die „Zeitenwende“ weggeklatscht.
Und psychologisch ist das ja auch leicht zu erklären. Am Anfang der Woche schauten viele Deutsche nach London, wo die Briten das Jubiläum ihrer Königin feierten und die Queen wieder einmal mit der ihrer eigenen Souveränität Charme, Witz und Klasse mühelos zusammenbrachte.
Königin gesucht
Irgendwie wollen die Deutschen auch so eine Königin haben, die für eine Kontinuität über allen Krisen steht. War das Gespräch im Berliner Ensemble also eine Art Ersatzhandlung? Wenn schon nicht die Queen, dann zumindest eine Alt-Kanzlerin, die über den Dingen zu schweben scheint und im uckermärkischen Gleichmut die Parole ausgibt: „Alles nicht so schlimm. Lasst euch nicht aus der Ruhe bringen. Wir haben alles richtig gemacht. Und wenn es hart auf hart kommt, dann kann Olaf Scholz ja bei mir anrufen.“
Aber Angela Merkel ist eben nicht die Queen und Alexander Osang auch nicht Paddington Bär. Cool Britannia, du hast es einfach besser.
Digitale Zukunft
Und der Kanzler? Der bewies am Donnerstag, dass auch er auf der Retro-Welle zu reiten weiß. Und das ausgerechnet bei der Digitalmesse „Re:publica“. Genau dort, wo also die Menschen zusammenkommen, die die digitale Zukunft des Landes planen, schwärmte Scholz davon, dass er gerade seinen neuen Personalausweis beantragt habe. Und zwar analog. Das Meldesystem würde doch bestens funktionieren. Läuft doch alles gut. Wie war das noch mit der „Fortschrittkoalition“?
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