Mit einer aufrüttelnden Rede hat Ursula von der Leyen am Donnerstagvormittag im Europäischen Parlament in Straßburg versucht, eine breite Mehrheit der Abgeordneten für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin zu gewinnen. „Europa steht an einem Scheideweg“, es müsse sich entscheiden, ob es sich den weltweiten Ereignissen anpasse oder die eigene Demokratie schütze, so Von der Leyen, wenige Stunden vor der Abstimmung über ihre Wiederkandidatur als Kommissionschefin. „Wir können den Wandel mitgestalten und zu einer Epoche neuen Wohlstands führen.“ Sie sprach zugleich von „Anzeichen für eine Welt, wo alles in Frage gestellt wird“, und von Versuchen, die Gesellschaften Europas zu spalten. Zugleich zeigte sie sich überzeugt, „dass Europa diesen Herausforderungen gewachsen ist“.
Wörtlich sagte Von der Leyen, die bereits fünf Jahre an der Spitze der EU-Kommission steht: „Ich werde die Demagogen und Extremisten nicht einfach die europäische Lebensweise zerstören lassen.“ Sie trete ein für ein starkes, wohlhabendes Europa, das seine Bürger schützt. Konkret will sie im Fall ihrer Bestätigung am „Green Deal“ festhalten, zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der EU stärken und den Binnenmarkt ausbauen. In der künftigen EU-Kommission soll jeder Kommissar beauftragt werden, sein Ressort daraufhin zu durchforsten, wo Bürokratie abgebaut werden kann. Umweltfreundliche Industrien sollen gefördert werden, denn die junge Generation erwarte, dass „Klimaschutz und wirtschaftlicher Wohlstand vereinbar gemacht werden“. Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland soll beendet werden.
Attacken und Provokationen
Europa muss nach Ansicht von Ursula von der Leyen künftig mehr in Sicherheit und Verteidigung investieren. „Russland ist immer noch in der Offensive.“ Putin hoffe, „dass der Westen zu schwach ist, und einige spielen da mit“, so Von der Leyen, die Viktor Orbáns Friedensmission nach Moskau als „Appeasement-Mission“ kritisierte. „Europa wird an der Seite der Ukraine stehen, solange es eben dauert. Wir müssen der Ukraine alles geben, was sie braucht, um Widerstand zu leisten. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist unsere Freiheit in Gefahr.“ Von der Leyen warb dafür, „eine echte europäische Verteidigungsunion aufzubauen“, einen „Binnenmarkt der Verteidigung“ mit gemeinsamen Investitionen.
Zudem will sie „Europol“ zu einer operativen Polizeieinheit ausbauen und die Grenzschutzagentur „Frontex“ stärken. „Unsere östlichen Grenzen sind das Ziel von Attacken und Provokationen geworden. Russland übt Druck auf diese Grenzen aus.“ Russland führe mit Desinformation, Spionage und Cyberattacken Krieg auf europäischem Boden: „Wir müssen die ausländischen feindlichen Akteure daran hindern, in unseren demokratischen Raum einzudringen und diesen auszuhebeln.“ Die Europäische Union brauche „ihre eigene Struktur, um die Informationsmanipulation zu bekämpfen“, müsse ihre Nachrichten- und Aufdeckungskapazitäten stärken. Von der Leyen versprach in diesem Zusammenhang einen „Plan zur Verteidigung der europäischen Demokratie.“
Europa habe eine aktive Rolle in der Welt zu spielen, so Ursula von der Leyen mit Blick auf den Krieg in Nahost. „Das Blutvergießen in Gaza muss jetzt aufhören. Zu viele Kinder, Frauen, Zivilisten sind umgekommen.“ Es brauche hier einen dauerhaften Waffenstillstand.
Nationalisten und Kommunisten gegen Von der Leyen
Unterstützung erhielt Ursula von der Leyen vom Fraktionsvorsitzenden der christdemokratischen EVP, Manfred Weber, dessen Parteienfamilie die CDU-Politikerin angehört: „Die europäische Demokratie wurde angegriffen. Wer sie verteidigen möchte, sollte Ursula von der Leyen wählen.“ Gerade weil Putin Europa spalten wolle, müsse das Europäische Parlament „ein eindeutiges Signal der Geschlossenheit abgeben“.
Zustimmung zur Wiederkandidatur Von der Leyens kam, wenngleich verhaltener, auch von Sozialdemokraten und Liberalen. Die spanische Sozialistin Iratxe García Pérez meinte zur Rolle ihrer Fraktion: „Wir werden die Brandmauer sein gegenüber der extremen Rechten in der gesamten EU.“ Valérie Hayer von der liberalen Fraktion „Renew“ forderte, Von der Leyen solle alles tun, „damit man das Recht auf Abtreibung in die Grundrechtecharta einträgt“.
Patrioten dagegen
Gegen Ursula von der Leyen sprach sich der Fraktionschef der neuen Gruppe „Patrioten für Europa“, der französische Europaabgeordnete Jordan Bardella aus. Der „Green Deal“ und der EU-Migrationspakt würden den Wählerwillen vom 9. Juni ignorieren. Auch Manon Aubry von der kommunistischen Fraktion „The Left“ lehnte Von der Leyen ab: „Wir werden nicht für Sie stimmen. Ihr Europa ist nicht unser Europa.“ Die schärfste Ablehnung kam von der Fraktion „Europa der Souveränen Nationen“, der auch die AfD-Europaabgeordneten angehören: Ewa Zajaczkowska-Hernik warf der Kommissionschefin vor, sie habe die europäische Wirtschaft und Landwirtschaft zerstört. Wegen ihres Migrationspaktes würden sich Millionen Frauen und Kinder in Europa nicht mehr sicher fühlen.
Unterschiedlich votieren wollten die Mitglieder der konservativen EKR-Fraktion, wie Nicola Procaccini von den italienischen „Fratelli d´Italia“ erklärte. Er mahnte Von der Leyen, die Bürger hätten sich bei der Europawahl „mehrheitlich für den gesunden Menschenverstand von Mitte-Rechts entschieden“, darum solle sich die Kommissionspräsidentin nicht an den Wahlverlierern von Sozialisten und Grünen orientieren. DT/sba
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.