Der grausame Terroranschlag von Krasnogorsk, im Nordwesten von Moskau, bei dem am Freitag 137 Menschen zu Tode kamen und mindestens 180 verletzt wurden, offenbart in einem doppelten Sinn die Schwäche der Putin’schen Despotie. Zunächst, weil der allmächtig wirkende Geheimdienst FSB, der die tragende Säule des „Systems Putin“ ist, ganz offensichtlich versagt hat. Warnungen westlicher Geheimdienste, darunter aus den USA, wurden nicht ernstgenommen, ja sogar als westliche Provokationen abgetan. So sehr ist das enge Netz der geheimdienstlichen Überwachung offenbar auf oppositionelle Kreise, Menschenrechtler und Kriegsgegner in Russland fokussiert, dass die islamistische Bedrohung nicht ausreichend im Blick des FSB war.
Noch dramatischer ist, wie infam Putin und seine Entourage den islamistischen Terroranschlag für seine propagandistischen Zwecke missbraucht: Obwohl sich der „Islamische Staat“ (IS-Khorasan) ausdrücklich zu der Tat bekannte und dies auch mit einem Video belegte, und obwohl die festgenommenen Terroristen tadschikische Staatsbürger sind, beschuldigte Wladimir Putin umgehend die Ukraine. Der russische Staat versagt damit nicht bloß in der Terrorverhütung, sondern auch in der Terroraufklärung. Stattdessen wird das grausame Blutbad propagandistisch missbraucht – offenbar mit dem Ziel, immer mehr Hass auf die Ukrainer zu schüren und die eigene Brutalität in der Ukraine zu rechtfertigen.
Vielfältige Motive für Rache des IS
Die Motive für einen IS-Anschlag im Herzen der Russischen Föderation sind vielfältig: Dazu muss man nicht auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan (1979-1989) zurückgreifen. Die militärische Unterstützung Putins für den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ab 2015 war in Syrien absolut kriegsentscheidend und hat beim IS gewiss Rachegedanken hinterlassen. Auch die enge Zusammenarbeit Russlands mit der schiitischen Großmacht Iran und den in Afghanistan herrschenden paschtunisch-nationalistischen Taliban versetzt die terroristische Konkurrenz vom IS-Khorasan in Rage.
Diesen Motiven nachzuspüren, wäre für ein realistisches Bedrohungsszenario nützlich. Doch die Art und Weise, wie die russischen Sicherheitskräfte mit den elf Festgenommenen verfahren, trägt zur Wahrheitsfindung wenig bei: Die Verdächtigen wurden am Sonntag mit offenkundigen, ja demonstrativen Spuren schwerer Folter vor dem Haftrichter präsentiert. Einem war ein Ohr abgeschnitten worden, ein anderer konnte nicht mehr gehen, wieder andere wiesen schwere Blutergüsse, Schürf- und Platzwunden auf. Dass die meisten Menschen unter ausreichender Folter nahezu alles „gestehen“, was man von ihnen hören will, weiß Putin aus eigener KGB-Vergangenheit. Der Wahrheitsfindung dient das nicht, aber an der Wahrheit ist der Kreml offenbar auch gar nicht interessiert.
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