Nun hat Wladimir Putin alles beisammen, was er für seinen nächsten Schlag gegen die Ukraine braucht: das Motiv, die Tatwaffe, den Vorwand und das Alibi. Das Motiv ist nicht allein, einen Beitritt der Ukraine zu NATO und EU zu verhindern, sondern eine funktionsfähige demokratische Ukraine zu sabotieren. Sonst könnten die Menschen in Russland ja auf die Idee kommen, dass auch in ihrem Land ein demokratischer, freier Rechtsstaat anstelle der autokratischen Angst-Herrschaft Putins denkbar wäre. Die Tatwaffe steht mit rund 190.000 Soldaten, schwerem Gerät und Kriegsschiffen an den Grenzen des Nachbarlandes im Norden, Osten und Süden bereit.
Eroberung, getarnt als humanitäre Intervention
Den idealen Vorwand vollendete die russische Propaganda am Freitag, indem sie das Märchen eines Genozids in der Ostukraine verbreitete. Bereits in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz sprach Putin von „Genozid“, obgleich der einzige Völkermord, der in der Ukraine tatsächlich stattfand, der von Stalin vorsätzlich ausgelöste Hungertod von Millionen Ukrainern (Holodomor) in den 1930er Jahren war.
Während Scholz bei Putin saß, forderte die russische Staatsduma die Anerkennung der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk. Daraufhin lieferten sich die von Russland koordinierten, ausgerüsteten und militärisch unterstützten Separatisten in diesen Gebieten Feuergefechte mit der ukrainischen Armee. Am Freitag endlich warnten sie vor einer militärischen Eskalation – durch die Ukraine! – und begannen, Frauen, Kinder und alte Menschen „in Sicherheit“ – nach Russland! – zu bringen.
Nun kann der Kremlchef, akklamiert von Kreml-hörigen Medien wie RT, seine Eroberung als humanitäre Intervention tarnen. Er kann den vermeintlich bedrohten und verängstigten Menschen im Donbass rettend zu Hilfe eilen und sie vor einem angeblich drohenden Genozid retten. Alles daran ist Lüge und Tatsachenverdrehung. Alles folgt jenen Drehbüchern, die wir aus den finstersten Stunden des 20. Jahrhunderts kennen.
Putin ist und bleibt der Regisseur des Krieges
Natürlich weiß der Westen, dass Putin lügt. Und Putin weiß, dass der Westen weiß, dass er lügt. Putin weiß aber auch, dass der Westen sich relativ rasch wieder beruhigen wird, wenn er nicht Kiew bombardiert oder auf Lemberg (Lviv) marschiert, sondern – vorerst – nur den Donbass „befreit“ und „schützt“ – die Region also gewaltsam aus der Ukraine herausbricht. Nach rhetorischen Protesten wird der Westen sich beeilen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, nicht allein wegen der europäischen Abhängigkeit von russischem Gas, sondern aus Angst vor einer unkontrollierten militärischen Eskalation. Dank dieser Angst des Westens kontrolliert Wladimir Putin Ort, Zeitpunkt und Anlass der militärischen Eskalation. Er ist und bleibt der Regisseur des Krieges.
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