Morgen zieht er wieder durch die deutsche Hauptstadt: der Marsch für das Leben – dieses so eindrucksvolle Zeichen für das Lebensrecht. Ist vorstellbar, dass vielleicht in ein, zwei Jahren auch Sahra Wagenknecht sich beim Marsch eingruppiert?
Mittlerweile leben wir in einer Zeit, in der man schon fast um jeden Tag froh ist, an dem sich in der politischen Tektonik keine Erdplatte verschiebt. Und irgendwie scheint alles möglich. Zudem: Die linkskonservative Position Wagenknechts – so wird gar nicht ganz zu Unrecht mittlerweile von vielen Beobachtern der Standpunkt der Parteigründerin in spe bezeichnet – stimmt tatsächlich auf den ersten Blick in vielem mit gesellschaftspolitischen Positionen überein, die auch von überzeugten Christen vertreten werden: große Skepsis gegenüber der gesamten LGBTQ-Agenda, Ablehnung der Gender-Sprache, insgesamt eine positive Bewertung der klassischen Familie. Das ist in der Parteienlandschaft keineswegs selbstverständlich und lässt deswegen auch bei manchem Hoffnungen keimen.
Ihre ideologische Quelle ist der Materialismus
Aber Vorsicht! Es spricht eigentlich alles dafür, dass diese neue Partei, die Sahra Wagenknecht gründen will, zwar nicht in direkter Linie zu SED und Linkspartei steht, ihre ideologische Quelle aber weiterhin der Materialismus ist. Wenn vielleicht auch in aufgehübschtem Gewand und vor allem auf solche Begriffe heruntergebrochen, die die Menschen, um die es gehen soll, tatsächlich auch verstehen. Es ist Materialismus für die Theke, nicht fürs Oberseminar.
Gerhard Schröder, jener Ex-Kanzler, der jetzt mit Wagenknechts Ehemann Oskar Lafontaine nach jahrzehntelanger Fehde Frieden geschlossen hat, und vielleicht schon bald eine Brückenfunktion für die „Wagenknechte“ in Richtung Sozialdemokratie ausüben könnte, der Putin-Freund aus Hannover also, sprach einst davon, die Currywurst sei der Kraftriegel des deutschen Arbeiters. Ungefähr auf dieser Ebene muss man sich den Materialismus dieser Art vorstellen. Volksnah, ja auch zunächst durchaus sympathisch, weil Gegengift gegen den Elitismus der Woken. Aber eben auch: strikt diesseitig, ganz auf Befriedigung im Hier und Jetzt aus, ohne Horizont, ohne Hoffnung. Das Grundmotto ist das Brecht’sche „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“.

Gewiss, so eine Strömung kann zur Belebung des Debattenklimas beitragen. Doch wer in Sahra Wagenknecht schon eine bundesrepublikanische Johanna von Orléans erkennen will, sollte bedenken, dass diese Sahra Wagenknecht es sicherlich eher mit Bertolt Brechts „Heiliger Johanna der Schlachthöfe“ hält, wo Religion nur ein Konstrukt zur Sicherung der Macht der Kapitalisten ist.
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