Das „Altmünchner Gesellenhaus“ ist vom Marienplatz der bayerischen Hauptstadt aus fußläufig zu erreichen. Es liegt in einer Seitenstraße, durch die verglaste Flügeltür strahlt schon das helle Licht auf die dunkle Straße. Drinnen hängen Kronleuchter aus Elchgeweihen von der Decke. Weiter hinten in dem Restaurant ist mit Glasscheiben ein großzügiger Bereich abgetrennt. Dort rücken Freunde und Mitglieder des „Bündnis Sarah Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“(BSW) gerade die Tische um. Sie möchten im Kreis sitzen, sodass ein „echter Austausch“ möglich sei, wie Kandidatin Simone Ketterl erklärt. Bayernweit hat sie den zweiten Listenplatz des keine zwei Jahre jungen BSW inne. Ob sie es in den Bundestag schaffe? „Wenn wir jetzt noch richtig guten Wahlkampf betreiben, dann schon“, so die 38-jährige Bayerin. Mit ihrem blaugeblümten Kleid und schwarzem Blazer könnte man meinen, sie sei eine Verwandte von Sarah Wagenknecht, so ähnlich sieht sie ihr. Wenn es das BSW in den Bundestag schafft, wäre Ketterl – früher aktiv bei den Linken – wahrscheinlich Mitglied im Parlament. Wohnhaft in Utting am Ammersee ist sie im Wahlkreis Passau direkt wählbar.
„Bist Du am Marienplatz dabei?“, fragt eine ältere Frau mit Stift und Zettel in der Hand einen der Zuhörer. „Wir suchen noch Ordner, wenn die Sarah am Montag kommt.“ Sie meint wohl die Veranstaltung am 3. Februar, als Parteichefin Wagenknecht nachmittags auf dem Münchner Marienplatz gesprochen hat. „Du kannst mich eintragen“, antwortet der Mann. Er arbeitet als Bankangestellter. Das BSW unterstütze er wegen dessen Einstellung zum Ukraine-Krieg. „Russland hat faktisch kein Interesse daran, in die Ukraine einzumarschieren“ erklärte Wagenknecht dem ARD im Februar 2022. Auch gefalle ihm das „links-konservative Bündnis“, fährt der Mann fort, weil es in der ansonsten „ausgedienten deutschen Parteienlandschaft“ neue Impulse setze. „Sarah Wagenknecht folge ich schon lange auf Youtube. Besonders ihr Buch ,Die Selbstgerechten‘ gefällt mir. Da könnte ich jeden einzelnen Satz unterschreiben“, sagt der Münchner.
Wer etwas Schlaues sagen möchte, kann das gerne tun
„Ich muss euch nicht die Welt erklären“, ergreift Kandidatin Ketterl nun das Wort. „Wir sind hier, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen. Ich möchte nur einen Impuls dazu geben, was wir als BSW anstoßen wollen. Wer etwas Schlaues sagen möchte, kann das gerne tun.“ Das Publikum – etwa fünfzig Personen füllen den Saal – ist buntgemischt. Wortwörtlich, zieht man die bunten Strickpullover der Rentnerinnen auf der Eckbank in Betracht. Ein Mann mit Latzhose sitzt Ketterl gegenüber, links am Tisch hat sich eine Männerrunde eingefunden. Der Kellner nimmt die Bestellungen an, ein junger Mann mit halblangen blonden Haaren und schwarzem Sweatshirt filmt Ketterl, während sie spricht.
„Deutschland ist kein Land des Wohlstands mehr. Unzählige Menschen arbeiten in Vollzeit, und trotzdem kommen sie am Monatsende kaum über die Runden“, sagt Ketterl. Ihre zarte Stimme kontrastiert sich mit dem etwas harten Tonfall. Vor ihr hat sie die Rede ausgedruckt liegen, stellenweise liest sie auch ab. Immer wieder schweift ihr Blick übers Publikum, auf ihrer Stirn zeichnen sich leichte Nervosität und hohe Konzentration ab. „Es kann nicht sein, dass Menschen am Existenzminimum leben, während die Politiker Geld in Rüstung und Waffen verschwenden. Die Politik sollte sich wieder um Menschen kümmern. Dass wir Waffen liefern ist ein Unding“, fährt sie fort. Ihre Stimme erhebt sich, es folgt einstimmiger Applaus. Der Kellner trägt leise Schweinebraten mit Pommes herein.
Jung, weiblich, intelligent?
Ketterl plädiert für den 15-Euro-Mindestlohn und ein Rentenmodell wie in Österreich. „Milliardäre müssen wir zur Kasse bitten“, spricht die Literaturwissenschaftlerin die soziale Ungleichheit in Deutschland an. Die Kluft zwischen arm und reich würde stetig größer. Um dem vorzubeugen, gelte es, ganz früh für Chancengleichheit zu sorgen. Am besten bereits in der Kita. „Als Gesellschaft können wir es uns nicht leisten, Ressourcen zu verschwenden. Kinder sind unsere Ressourcen. Es kann nicht sein, dass nur Kinder aus Akademikerhaushalten gute Bildung bekommen“, so Ketterl, die sich selber „hocharbeiten“ musste. „Ich bin die erste in meiner Familie, die studiert hat. Mein Vater arbeitete in der Automobilindustrie, meine Mutter in der Pflege“, so die Mutter zweier Kinder.
„Hallo Simone“, ergreift nun jemand das Mikrofon. „Du erfüllst bekanntlich die Kriterien von BSW-Kandidaten: jung, weiblich, intelligent. Ich habe eine Frage: Wie würdest du dich mit Putin über unsere Friedenspolitik austauschen, würdest du ihn morgen treffen?“ Ketterls Blick wird ein wenig mitleidig, über die Antwort braucht sie nicht lange nachzudenken: „Dass nicht mehr geschossen wird, keiner mehr stirbt, und keine Infrastruktur mehr zerstört wird“, sagt die ausgebildete Journalistin. „Aus Putins Sicht ist Deutschland doch ein Stiefelknecht Washingtons“, kommentiert ein Mann am Nebentisch.
Menschen bleiben Menschen
Die ersten Biergläser sind leer, auf der anderen Seite der Indoor-Glasfenster sieht man nun auch Familien in dem eleganten Wirtshaus zu Abend essen. Die BSWler tauschen sich nun über Migranten aus. Ketterls Meinung dazu: „Ich möchte keine Menschen stigmatisieren. Die allermeisten geflüchteten Menschen dürfen hier gerne bleiben. Aber, es gibt auch einige, die hier eindeutig kein Bleiberecht haben. Auf keinen Fall dürfen wir aber auf die Hetze gegen Menschen eingehen. Das wäre Wasser auf die Mühlen der AfD. Menschen bleiben nun mal Menschen.“
Das Mikrofon wandert im Minutentakt von einem Tisch zum nächsten. Es geht nun um das Bildungssystem, weil einer der Anwesenden sich über das deutsche Bachelorsystem beschwert. „Man liest noch nicht einmal mehr primäre Quellen“, entrüstet sich der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter einer bayerischen Universität. Ketterl – sie ist der Meinung, Politiker müssten nicht immer für Alles eine Lösung parat haben – ist es wichtig, beim Lernen „Zeit für Reflexion und Entwicklung“ zu lassen. Individualität komme vor Effizienz. Kreativität und Innovation müsse man fördern. Schließlich seien das die Stärken von Deutschland, welches nicht über Rohstoffe verfüge. „Warum muss man mit 23 schon einen Master in der Tasche haben? 26 reicht doch genauso“, findet Ketterl. „Überhaupt“, bringt sie es schließlich auf den Punkt, „Deutschland würde das BSW sehr gut tun“.
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