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Boris Palmer: „Demokratie in Europa ist von zwei Seiten bedroht“

Im Dienste der demokratischen Kontroverse: Nach seiner Auszeit begibt sich der Tübinger Oberbürgermeister auf europäische Völkerverständigungsmission nach Ungarn.
Tübinger OB Boris Palmer hält Vortrag in Budapest
Foto: Marton Monus (dpa) | Erläuterte seine Zuhörern eine Art neue Hufeisentheorie: Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen bei seinem Vortrag am Mathias-Corvinus-Collegium (MCC).

„Dialog ist nicht, wenn man in der eigenen Kirche predigt“ -  Und für den Dialog mit den ganz Andersgläubigen, der der Deutschen Presseagentur (dpa) schon vorab mehr als nur eine alarmierte Meldung wert gewesen war, war er am gestrigen Dienstag nach Budapest gekommen: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, „Kuriosum der deutschen Politik“, der „ gleichermaßen zu begeistern weiß, wie aufzuregen, zu empören, zu inspirieren“. So jedenfalls stellte ihn der Gastgeber, Zoltan Szalai, vor, seines Zeichens Generaldirektor des Think-Tanks „Mathias-Corvinus-Collegiums“ (MCC), das „eng mit der Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban verbunden ist“ (dpa). Für Palmer, der sich jüngst eine einmonatige Auszeit verordnet hatte, um an seiner „Selbstbeherrschung“ – man könnte auch sagen, an seinen Reflexen – zu arbeiten, war es einer der ersten öffentlichen Auftritte. Bei bundespolitischen Themen wolle er sich zukünftig zurückhalten, hatte er noch letzte Woche im ZDF-Talk mit Markus Lanz zu verstehen gegeben. Doch statt der Konzentration auf Lokalpolitik folgte nun direkt der Schwenk zur Völkerverständigung, die Palmer allerdings in gewohnter Weise eher im Sinn der gepflegten Kontroverse, weniger der diplomatischen Zurückhaltung interpretierte.

„Über die Grüne Grenze“, so lautete der Titel des Palmer-Vortrags dementsprechend grenzüberschreitend. Eine Anspielung auf das größte deutsch-ungarische Konfliktthema der letzten Jahre, die Migrationsbewegung nach Europa; aber auch auf Palmers „eigene Kirche“, die grüne Partei, aus der er im Mai nach einem Eklat bei einer Migrationskonferenz ausgetreten war. Nun, gestärkt durch seine selbstverordnete Politik-Pause, und befreit von allen vorher eventuell noch in Resten vorhandenen Parteiloyalitäten, gab Palmer aus nüchterner Vogelperspektive Einblick in die Anatomie der ideologischen Gegensätze zwischen Deutschland und Ungarn.

Es muss nicht immer Vielfalt sein

„Die Grenze, um die es mir vor allem ging, ist eine mentale“, so Palmer. „Für das Denken der deutschen Grünen ist ethnische Vielfalt per se erstrebenswert. Und es spricht viel dafür, dass die Entwicklung der Welt - über Jahrhunderte gedacht – diesen Weg nehmen wird. Nationalstaatliche Grenzen werden für die Herausforderungen der Menschheit zunehmend ungeeignet.“ Etwa der Klimawandel ließe sich nur global abmildern; die Welternährung werde nur mit globaler Solidarität gelingen. Palmer äußerte aber auch für die ungarische Position Verständnis: So habe der Mensch auch eine Herkunft und Geschichte. Die (erstmalige) Öffnung für Migration sei eine schwierige Frage, die jede Nation für sich selbst diskutieren müsse – denn es gehe dabei um nicht weniger als die Frage wer man ist, und sein will. Er halte es für legitim, dass eine Gesellschaft Vielfalt als Leitbild nicht verfolgen, sondern an einer historisch bedingten Gemeinschaft so lange festhalten wolle, wie dies möglich erscheine.

Palmer, der sich nicht ohne Stolz attestierte, gern zwischen allen Stühlen Platz zu nehmen, ließ es nach der Analyse auch an Kritik an beiden Seiten nicht fehlen. Diesseits der mentalen Grenze „würde es der Gesellschaft guttun, migrationsskeptische Haltungen und die realen Probleme mit vielen Migranten ernsthaft zu diskutieren, und weder zu stigmatisieren, noch zu tabuisieren. Jenseits der grünen Grenze, mutmaßlich auf der ungarischen Seite, würde ein Blick auf die reale Not von Krieg und Verfolgung und die Leistungen asylfreundlicher Gesellschaften ebenso guttun, wie auf die Chancen, die in der Ordnung liegen, die die Freiheit des Individuums in jeder Hinsicht garantiert.“ Er plädiere daher für eine Öffnung der „grünen Grenze“: An die Stelle der gegenseitigen Verurteilung und Abwertung müsse ein echter vorurteilsfreier Austausch treten.

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Demokratisch sind weder Rechtspopulismus noch Wokeness

Wiewohl Palmer auch konkrete Ratschläge an die ungarische Regierung zum Besten gab – etwa, endlich die neue europäische Einigung zur Abwicklung von Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, die doch der ursprünglichen ungarischen Haltung entspreche, zu unterstützen – entspann sich im Anschluss die spannendere Diskussion über Fragen des politischen Diskurses selbst. Schon in seinem Vortrag hatte Palmer der Demokratie eine Bedrohung von zwei Seiten attestiert: durch die Rechtspopulisten „im eigentlichen Sinne“; also die, die – mit allen Konsequenzen - die Vertretung des Volkes für sich „allein in Anspruch nehmen, und Vertretern anderer Parteien abzusprechen, das Volk zu vertreten“. Und auf der anderen linken Seite durch „eine zunehmend stärker werdende Entsprechung“, die „woke“, also „erweckte“ Bewegung, bei der bereits die Selbstbezeichnung impliziere, „dass Menschen anderer Auffassung nicht auf der selben Bewusstseinsstufe stehen können“. „Der wesentliche Unterschied“ zwischen beiden sei dabei, dass die „Entfernung aus beruflichen und gesellschaftlichen Stellungen“, die zur Sanktionierung bei mangelnder Loyalität zu den jeweiligen Glaubenssätzen vorgesehen seien, im rechtspopulistischen Staat von oben durchgeführt werde, während „die wokeness es schafft, so viel moralischen Druck aufzubauen, dass Delinquenten entweder widerrufen oder aus Gründen der Opportunität fallen gelassen werden“.

Aus dem Publikum wurde anschließend eine gewisse Verwunderung darüber artikuliert, dass Palmer die versuchte Beeinträchtigung des freien demokratischen Diskurses durch die woke Bewegung derart klar geißelte, gleichzeitig aber seinerseits die Verbreitung fragwürdiger Thesen durch andere Gäste des MCC als Grund bezeichnete, das eigene Kommen zu überdenken. Palmer indes sah darin keinen Widersprüchlichkeit: So habe der rechte amerikanische Talkmaster Tucker Carlson vor dem MCC behauptet, die Biden-Regierung habe die Nord-Stream-Pipelines gesprengt und somit Deutschland angegriffen. „Dialog heißt für mich auch widersprechen, wenn jemand Unsinn verzapft“, befand Palmer. Dass dies offensichtlich nicht geschehen sei, sei für diejenigen, die das MCC als „rechtsreaktionär“ bezeichneten, eine „gute Vorlage“ – und es sei eben die Entscheidung des MCC, ob man „den Preis zahlen“ wolle, als rechtsreaktionär zu gelten. Bei ihm jedenfalls lösten solche Äußerungen „Reflexe aus“.

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