Herr Weihbischof Renz, Sie engagieren sich schon lange stark für den Lebensschutz. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Schon während meines Theologiestudiums hat mich das Thema interessiert. Damals hat auch ein Schulfreund, der später mein Schwager geworden ist, Jura studiert. Er hat als gläubiger Jurist über den § 218 StGB promoviert und seither sind wir immer wieder darüber im Gespräch. Und ich habe gemerkt, dass es einfach wichtig ist, dass wir uns als Kirche in dieser Frage gut positionieren und zwar ohne Frauen, die vor der Frage der Abtreibung stehen, in irgendeiner Weise zu verurteilen, unter Druck zu setzen oder an den Pranger zu stellen. Sondern so, dass wir möglichst vielen Frauen Hillfs- und Beratungsangebote machen, wie sie am besten mit dieser Situation umgehen können: „Hilfe statt Abtreibung“ wäre für mich hier das entscheidende Stichwort.
In Ihrem Vortrag auf dem Kongress Leben.Würde haben Sie argumentiert, die Ablehnung der Abtreibung lasse sich biblisch begründen. So stehe in der ganzen Bibel nirgendwo, dass man abtreiben darf. Das allein ist ja aber noch kein Beweis. Seit wann ist das denn für die Kirche lehrmäßig geklärt, dass Abtreibung definitiv verboten ist? War das immer schon so?
Nicht zu jedem bioethischen Thema, das uns heute beschäftigt, gibt es eine explizite Bibelstelle. Zum Beispiel nicht zur Frage der pränatalen Diagnostik oder zur Leihmutterschaft. Aber es gibt schon ganz deutliche biblische Hinweise, dass das Leben des Menschen nicht erst mit seiner Geburt beginnt. Gott beruft schon im Mutterleib Menschen wie etwa Johannes den Täufer. Oder denken wir an das Buch Jeremia, wo es heißt „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen“ [Jer 1,5]. Auch wenn die Mutter und der Vater das Kind noch nicht sehen können, hat Gott es bereits im Mutterleib im Blick.
Der heilige Thomas von Aquin soll davon ausgegangen sein, dass das Kind erst im Laufe der Schwangerschaft beseelt würde…
Ja, das ist tatsächlich so. Der heilige Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert hat diese Theorie einer späteren Beseelung vertreten, dass das Kind also erst ab einem bestimmten Punkt während der Schwangerschaft eine Seele habe. Es gibt ja auch heute noch Weltreligionen, die das behaupten. Aber wir wissen heute viel besser als im Mittelalter, wie das menschliche Leben entsteht. Fakten, die heute wissenschaftlich erwiesen sind, sollten wir unbedingt auch ernst nehmen. Zum Beispiel, dass bei einem Embryo schon zu Beginn der vierten Schwangerschaftswoche ein eigener Herzschlag per Ultraschall nachweisbar ist. Ich finde, das ist unglaublich beeindruckend, dass man heute sieht, der Nasciturus ist schon in diesem frühen Lebensstadium nicht einfach nur ein Teil der Mutter, sondern hat schon einen eigenen Herzschlag zu einem Zeitpunkt, an dem manche Frau noch nicht einmal weiß, dass sie schwanger ist! Als Kirche betreiben wir aber nicht selbst Wissenschaft über die Entstehung des Menschen, sondern haben einen Auftrag, das Leben zu schützen. Wo wollen Sie denn den Beginn der Menschenwürde zeitlich ansetzen, wenn nicht ganz am Anfang? Ab dem sechsten Monat oder ab der Geburt? Mit welchem Recht und welcher wissenschaftlichen Begründung will man denn da irgendeine Zäsur in der Schwangerschaft setzen? Es ist doch viel naheliegender und vernünftiger zu sagen, das menschliche Leben steht von seinem allerersten bis zu seinem allerletzten Augenblick unter dem Schutz Gottes und hat eine unveräußerliche Würde.
Wie blicken Sie denn auf die Entwicklung des Themas Lebensschutz? Mir scheint, dass sich für dieses Anliegen immer mehr junge Menschen begeistern lassen.
Also ich glaube nicht, dass das ein Wachstumsthema ist. Das wäre schön, ist aber aus meiner Sicht etwas euphemistisch. Ich war jetzt zwei, drei Mal beim „Marsch für das Leben“ in Berlin und letztes Jahr in München dabei. Da sind jeweils schon ein paar tausend Teilnehmende und auch immer viele junge Menschen unterwegs. Aber die große Masse erreicht das Thema noch lange nicht, da stehen wir doch noch sehr am Anfang.
Kann die Kirche da etwas besser machen?
Ich finde, dass wir das Thema weitgehend vernachlässigt haben. Wo gibt es Pfarrer, die gelegentlich mal über dieses Thema sprechen, um Bewusstsein dafür zu bilden? Oder Pfarrgemeinderäte, die sich mit dem Thema beschäftigen? Dabei wäre die Frage doch durchaus interessant: Was können wir in unserem Dorf, in unserer Stadt tun, wenn schwangere Frauen in Not sind? Was können wir vor Ort an ganz konkreten Hilfen anbieten? Auch in der Bischofskonferenz habe ich nach dem Ausstieg der Katholischen Kirche aus dem staatlichen Beratungssystem im Jahr 2000 nur noch selten etwas zu diesem Thema gehört. Einzelne Bischöfe äußern sich gelegentlich mal zu diesem Thema, aber im Großen und Ganzen machen wir doch eher einen weiten Bogen darum.
Woran liegt das?
Ich glaube, wir wollen in der Kirche heute vor allem den Eindruck vermeiden, als ob wir irgendjemandem Vorschriften machen würden. Aber sich überhaupt nicht mehr mit dem Thema auseinanderzusetzen halte ich für viel fataler, als sich kontrovers damit zu befassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gläubige, die an einen Gott glauben, der „ein Freund des Lebens“ ist [Wsh 11, 26], sich an mehr als 100.000 vorgeburtliche Kindstötungen pro Jahr in Deutschland gewöhnt haben und das für ein unabwendbares Schicksal halten. Das Schlimmste wäre für mich, wenn man das Thema einfach ignoriert und sagt, das geht mich nichts an. Ich glaube, es geht uns alle etwas an! Da ist also für uns als Kirche durchaus noch Luft nach oben.
Ist das Problem für die Bischofskonferenz nicht auch, dass man Angst hat, man würde beim Engagement für den Lebensschutz von irgendwelchen rechten Gruppen vereinnahmt werden? Wie gehen Sie damit um?
Es ist natürlich immer ärgerlich, wenn Sie in einen Topf geworfen werden mit politisch extremen Positionen oder Parteien, mit denen Sie – außer bei diesem Thema – sonst keine gemeinsame Schnittmenge verbindet. Tatsächlich nehmen sich in den letzten Jahren fast nur noch Politiker aus dem extrem rechten Spektrum dieses Themas an. Schauen Sie doch mal, wie viele Parteien es in Deutschland noch sind, die von einer „Willkommenskultur für Ungeborene“ sprechen. Dabei ist das Thema so wichtig, dass es eine breite Unterstützung für den Lebensschutz in der Gesellschaft bräuchte, um sich der Not von Schwangeren in Konfliktsituationen effektiv annehmen zu können. Das Thema in der Öffentlichkeit totzuschweigen, nur weil sich inzwischen nur noch die extrem Rechten des Themas annehmen, ist wirklich keine Alternative, wenn jeder einzelne Mensch, auch der ungeborene, eine einzigartige Würde besitzt und von Gott unendlich geliebt ist. Wir haben als Kirche den Auftrag, Zeugnis für die Schönheit und Kostbarkeit des Lebens zu geben. Das ist das, was uns die Heilige Schrift nachdrücklich ans Herz legt und der Gott der Liebe uns Menschen sogar die schlimmsten Sünden vergibt. Daher müssen wir als Kirche Frauen, die ihr Kind abgetrieben haben, immer auch heilsame Versöhnungswege anbieten. Ich bin davon überzeugt, dass es kaum eine Frau unberührt lässt, wenn sie spürt, da wächst ein neues Leben in ihr heran, sie es dann aber nicht annehmen kann oder will. Eine Abtreibung kann man nicht so leicht abhaken, wie wenn man sich beim Zahnarzt einen Zahn hat ziehen lassen. Vielmehr wissen wir heute aus der Beratungspraxis, dass das Thema die meisten Frauen noch lange Zeit beschäftigt und belastet. Daher sollten wir als Kirche gerade in diesem hoch sensiblen Seelsorgebereich Frauen nach einer Abtreibung möglichst viele versöhnende, heilende, befreiende und befriedende Angebote der Nachsorge machen.
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