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Erdrutsch-Sieg für Brexit-Boris

Wahl-Analysen sehen in Jeremy Corbyn den Sündbock für das Labour-Desaster. Tories siegen auch in katholischen Gebieten. Für die SPD könnte die britische Unterhauswahl ein Omen sein.
Boris Johnson nach der Parlamentswahl in Großbritannien
Foto: Stefan Rousseau (PA Wire)

Die britische Unterhauswahl war ein gefühltes zweites Referendum über den Brexit. Bereits 2016 stand Boris Johnson an der Spitze der „Brexiteers“, die einen Ausstieg des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union befürworteten. Als Nachfolger von Theresa May fehlten ihm neun Sitze für eine feste Mehrheit im Parlament, um die Hängepartie endlich zu beenden. Die Wähler haben den Tories fast 50 neue Mandate spendiert. Das ist das, was man üblicherweise einen Erdrutschsieg nennt.

Während in britischen wie deutschen Pressestuben die Schmerzmittel auf den Schreibtischplatten stehen – noch vor wenigen Tagen war davon die Rede, dass die Konservativen ihren Vorsprung in den Umfragen verloren hätten, die Tagesschau behauptete noch am Donnerstagabend auf ihrem Twitteraccount, es würde „knapp“ werden – beginnt vielerorts die politische Analyse. Sie hat Johnsons Herausforderer, Jeremy Corbyn, zum Sündenbock des Labour-Desasters erhoben.

Rückschritt zu altlinken Positionen 

Antisemitismus, eine zweifelhafte Verehrung von IRA-Terroristen und ein sozialistisches Wahlprogramm, das genau den Wünschen des einstigen linksradikalen Hinterbänklers entsprach, waren ein gefährlicher Cocktail. Die einst stolze Arbeiterpartei hatte sich den Rückschritt zu altlinken Positionen verschrieben und sich von Tony Blairs „New Labour“ verabschiedet. Aber das Corbyn-Experiment ging schief. Der deutschen SPD, die mit der Wahl ihrer Vorsitzenden den deutschen Corbynismus probt, könnte es ein Omen sein.

Corbyn hatte sich beim Brexit alle Optionen offen gehalten. Das lag nicht zuletzt daran, dass beim Referendum über den Brexit im Jahr 2016 das Lager der Labour-Wähler gespalten war. Insbesondere in den ehemaligen Arbeiterhochburgen der Midlands und des Nordens stimmten die Stammwähler für „Leave“ ab, obwohl die Parteiführung ein „Remain“ vorgab. Corbyns Balanceakt war deswegen geboten, weil er nicht jene Schicht verprellen wollte, die als sozialdemokratische Basis gelten. Ähnlich wie die Lega in Italien und die AfD in Deutschland verliert auch die englische Linke derzeit die Arbeiter und das Kleinbürgertum an nationalkonservative Strömungen.

Einst rote Hochburgen mit hohem katholischen Anteil

Die Wahl wurde aber nicht nur in den einst roten Hochburgen gewonnen. Es sind zugleich Gebiete mit hohem katholischem Anteil. Labour galt lange Zeit als jene Partei, welche die katholische Minderheit Großbritanniens vornehmlich wählte. Das hat historische und geographische Gründe: die Gegenden, in denen die Industrialisierung begann, waren zugleich Gebiete, die traditionell eine katholische Identität bewahren konnten, so zum Beispiel Yorkshire. Ähnlich wie die ganze Partei sind auch die Katholiken beim Thema Brexit gespalten: nur eine hauchdünne Mehrheit sprach sich bei Umfragen für einen Verbleib in der EU aus.

Noch bei der Unterhauswahl 2001 wählten fast 60 Prozent aller Katholiken des UK die Labour-Party. Der Anteil der Katholiken, welche den Tories ihre Stimme gaben, belief sich dagegen stets auf 20 bis 30 Prozent. Bei der letzten Unterhauswahl 2017 war der Anteil der katholischen Wähler so zusammengeschrumpft, dass Labour nur noch knapp vor den Konservativen lag. Beide Parteien erreichen nunmehr etwa 40 Prozent der katholischen Wähler. Besonders dramatisch hat Labour auch in Schottland bei den Katholiken verloren. Grund dafür ist der Aufstieg der Scottish National Party (SNP), die sich für eine stärkere Autonomie bzw. Unabhängigkeit Schottlands einsetzt. Labour hat diese Stammhochburg bereits Anfang der 2010er einbüßen müssen, bevor sie 2017 Terrain gutmachte. Offensichtlich handelte es sich aber nur um eine Verschnaufpause. 

Die Bischöfe riefen dazu auf, den Lebensschutz bei der Wahl zu berücksichtigen

Für die Wahl vom Donnerstag liegen noch keine konkreten Zahlen vor, doch dürfte der Trend der Labour-Erosion im katholischen Lager keine Ausnahme sein. Inwieweit die Forderung nach liberaleren Abtreibungsgesetzen vonseiten Labours Katholiken abgeschreckt hat, kann nur spekuliert werden. Die englischen Bischöfe hatten jedoch vor der Wahl explizit Katholiken dazu aufgefordert, dem Lebensschutz bei ihrer Wahlentscheidung zu berücksichtigen. Hinsichtlich der kürzlich eingeführten, ultraliberalen Abtreibungsregelung in Nordirland schien dies notwendig zu sein. Für viele schied zudem die liberaldemokratische Partei als Option aus, da der dortige Umgang mit dem verhinderten Kandidat Rob Flello ihre Kreise in der katholischen Gemeinde zog. Flello sagte ausdrücklich, dass Katholiken nicht in der Partei willkommen seien. Die Liberaldemokraten hatten ihn als Kandidaten verhindert, nachdem er sich kritisch zur gleichgeschlechtlichen Ehe äußerte.

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