Wenn das Streben nach Profit vorherrscht, sind andere keine Menschen mehr, (...) sie sind nur noch Objekte, die ausgebeutet werden können; und so verlieren wir am Ende uns selbst und unsere Seele. Die Bekehrung derer, die Wucher betreiben, ist genauso wichtig wie die Nähe zu denen, die unter Wucher leiden.“ Wucher? Ein altmodisches Wort, könnte man meinen. Ist der Kampf gegen den „Zinswucher“ nicht ein Relikt biblischer Zeiten, längst überholt im Zeitalter des Finanzkapitalismus? Die Worte Papst Leos anlässlich einer Audienz vor gut zwei Wochen sprechen eine andere Sprache. Zeit, einem uralten Phänomen neu auf die Spur zu kommen.
Zinsen sind an sich keine Sünde, können es aber werden. Die katholische Soziallehre verurteilt Wucher, also ausbeuterische Zinsen, als schwere Sünde. Gleichzeitig erkennt sie an, dass faire Zinsen legitim sein können, wenn sie reale Kosten, Risiken und Leistungen vergüten. Die Tradition ist dabei eindeutig: Kredit soll dem Menschen dienen, nicht ihn knechten. Seinen Ursprung hat das Verbot von Wucher in der Heiligen Schrift. So heißt es im Alten Testament: „Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern“ (Ex 22, 24). In der Spätantike und im frühen Mittelalter verurteilten Konxzilien das Zinsnehmen. So bezeichneten beispielsweise das Konzil von Karthago im Jahr 345 und die Synode von Aix im Jahr 789 das Fordern von Zinsen als verwerflich.
Diese Haltung übernahm später das kirchliche Recht: Sowohl die Rechtssammlung des „Decretum Gratiani“ als auch die Decretalen, päpstliche Rechtsentscheide, verboten Zinsen und verlangten, dass unrechtmäßig erzielte Gewinne zurückgezahlt werden. Die großen Reichskonzilien verschärften diese Bestimmungen weiter. So schloss das Dritte Laterankonzil (1179) offensichtliche Wucherer von den Sakramenten und vom kirchlichen Begräbnis aus. Beim Zweiten Konzil von Lyon (1274) wurde das Zinsverbot bestätigt und beim Konzil von Vienne (1311/12) schließlich erklärt, dass diejenigen, die bestreiten, dass das Zinsnehmen sündhaft sei, als Ketzer zu gelten haben. Mit diesen Verboten sollten vor allem die Armen geschützt und die Vertragstreue gewahrt werden. Die Tatsache, dass das kanonische Recht keine klare Regelung für angemessene Zinsen kannte, lag an der damaligen Wirtschaftsstruktur: Es gab kaum produktive Investitionen, sondern vor allem Konsumkredite.
Thomas von Aquin und das reale Risiko
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung im Hochmittelalter änderte sich das. Menschen arbeiteten enger zusammen. Dadurch entstanden neue Formen des gemeinsamen Risikos: Wer Geld in ein Unternehmen investierte, teilte das Risiko mit dem Unternehmer – und erhielt im Erfolgsfall einen Anteil am Gewinn, statt einen festen Zins. Thomas von Aquin erklärte den Unterschied so: Wer Geld verleiht, darf dafür keinen Preis verlangen, weil Geld durch seinen Gebrauch verbraucht wird. Ein Zins allein für das Leihen, die sogenannte Usura, sei daher eine Sünde. Allerdings gebe es Fälle, in denen eine zusätzliche Zahlung gerechtfertigt sei, etwa wenn der Verleiher ein reales Risiko trägt, einen möglichen eigenen Gewinn aufgibt oder durch das Darlehen einen Schaden erleidet. Diese Zusatzgründe werden als „extrinsische Titel“ bezeichnet und waren ab dem 16. Jahrhundert allgemein anerkannt.
Papst Benedikt XIV. fasste dies 1745 in seiner Enzyklika „Vix pervenit“ zusammen. „Mit diesen Bemerkungen wollen Wir jedoch nicht leugnen, dass neben dem Darlehensvertrag auch andere Rechte bestehen können, die nicht unbedingt mit dem Vertrag in Zusammenhang stehen. Aus diesen Rechten ergeben sich durchaus berechtigte und legitime Gründe, mehr als den vertraglich geschuldeten Betrag zu verlangen. (…) Mit solchen Verträgen lässt sich ein ehrlicher Gewinn erzielen“, betonte Benedikt XIV. damals. Damit öffnete das Lehramt eine differenzierte Betrachtung: Nicht jeder Mehrbetrag ist Wucher, sondern nur der, der ohne gerechtfertigten Grund dem bloßen Verleihen aufgeschlagen wird.
Franziskus, Leo und die katholische Soziallehre
In dieser Kontinuität steht auch die aktuelle Lehre. So sieht das vatikanische Schreiben Oeconomicae et pecuniariae quaestiones (2018) zwar eine „unverzichtbare soziale Funktion des Kredits“, warnt jedoch vor exzessiven Zinssätzen und Praktiken, die Schuldner überfordern. Hierzu betonte das Kompendium der Soziallehre der Kirche: „Auch wenn das Streben nach gerechtem Gewinn im Wirtschafts- und Finanzwesen akzeptabel ist, ist der Rückgriff auf Wucher moralisch zu verurteilen: ‚Wer aus Wucher und Habgier seine Brüder und Schwestern hungern und sterben lässt, begeht indirekt einen Mord, der ihm zur Last gelegt wird.’ Diese Verurteilung gilt auch für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere im Hinblick auf die Situation der weniger entwickelten Länder, die niemals ‚missbräuchlichen, wenn nicht gar wucherischen Finanzsystemen’ ausgesetzt werden dürfen.“
Praktisch bedeutet das: Ein legitimer Zins vergütet Leistungen, also beispielsweise Risiko, Inflation, Verwaltung oder entgangene Erträge. Ein Hypothekendarlehen mit einem moderaten und transparenten Zinssatz kann sittlich in Ordnung sein. Wucher liegt hingegen beispielsweise bei kurzfristigen Krediten mit dreistelligen Effektivzinsen oder intransparenten Zusatzgebühren vor.
Ein Beispiel: „Payday Loans“
Angesichts der sogenannten „Payday Loans“ (Zahltagskredite) in den USA sprachen die US-Bischöfe von „räuberischen Bankgeschäften“ und forderten einen staatlichen Schutz für die Schwachen. Dabei handelt es sich um kurzfristige, sehr hoch verzinste Kredite, die mit dem nächsten Gehaltsscheck abgesichert werden. Nach Angaben der „Pew Charitable Trusts“ nutzen jährlich rund zwölf Millionen amerikanische Erwachsene Payday Loans. Der durchschnittliche Kreditnehmer nimmt dabei acht Kredite über jeweils 375 Dollar pro Jahr auf, gibt insgesamt 520 Dollar für Zinsen aus und ist etwa fünf Monate im Jahr verschuldet.
Es sind wohl nicht zuletzt derartige Kreditangebote, die der Papst in seiner Ansprache jüngst geißelte, als er sagte: „Es gibt eine Form der Wucherzinsen, die scheinbar Menschen in finanziellen Schwierigkeiten helfen will, sich aber bald als das entpuppt, was sie wirklich ist: eine erdrückende Last.“ Auch sein Vorgänger Franziskus verurteilte den Wucher im Jahr 2018 scharf: „Wucher ist eine schwere Sünde: Er tötet Leben, tritt die Würde der Menschen mit Füßen, ist ein Vehikel für Korruption und behindert das Gemeinwohl. Er schwächt auch die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen eines Landes.“
Die kirchliche Faustregel bleibt somit eindeutig: Transparenz, Verhältnismäßigkeit und ethische Verantwortbarkeit bilden die drei Säulen jedes legitimen Zinses. Der Zins muss klar nachvollziehbar und sachlich begründet sein, er darf nicht über das gerechte Maß hinausgehen, sondern soll dem tatsächlichen Risiko und Aufwand entsprechen. Und schließlich verlangt die katholische Soziallehre, dass der finanzielle Ertrag nicht zulasten der Schwachen erwirtschaftet wird.
Der Autor ist katholischer Journalist und studierter Wirtschaftswissenschaftler.
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