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Vom Naturrecht zur Katholischen Soziallehre

Es war der Beginn der Soziallehre der Kirche: „Rerum novarum“ von 1891. Papst Leo XIII. kritisierte Sozialismus und Kapitalismus, und betonte Eigentum, Familie und gerechten Lohn.
Papst Leo XIII.
Foto: Library of Congress / wikimedia commons | Neue Überlegungen an der Schwelle zur Industriegesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts: Papst Leo XIII.

Als 1891 Papst Leo XIII. mit „Rerum novarum“ („Über die neuen Dinge“) auf die soziale Frage der Industrialisierung antwortete, konnte er noch nicht wissen, dass aus dieser Enzyklika später eine ganze Disziplin erwachsen sollte: die Katholische Soziallehre. Die Enzyklika verteidigte schlicht das Privateigentum, forderte den familiengerechten Lohn und ordnete den Staat klar dem Gemeinwohl unter, jenseits von Klassenkampf und ungezügeltem Kapitalismus.

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„Der Geist der Revolution, welcher seit langem durch die Völker geht, musste, nachdem er auf dem politischen Gebiete seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen“, stellte der Papst in den einleitenden Worten fest.

Fabrikarbeit, Massenarmut, Mietskasernen, Kinderarbeit oder gefährliche Maschinen waren prägende Phänomene während der beginnenden Industrialisierung. Das Nebeneinander zweier unzureichender Antworten spaltete die Menschen. Fand in der kapitalistischen Eigenlogik der Mensch nur als Produktionsfaktor oder Konsument Beachtung, so stand auf der anderen Seite die sozialistische Ideologie, die (spätestens mit Marx und Engels) die Produktionsmittel verstaatlichen wollte und dabei auch immer wieder dezidiert religionskritisch auftrat.

Mit dem modernen Staat musste sich die Kirche erst anfreunden

Leos Rede von den „verderblichen Wirkungen“ des Revolutionsgeists deutet bereits darauf hin: Bevor sich die Kirche den sozialen Fragen im modernen Gesellschaftsgefüge zuwenden konnte, musste sie sich zunächst mit dem modernen, nachrevolutionären Verfassungsstaat auseinandersetzen. Dabei standen sich innerhalb der Kirche „liberal-katholische“ Strömungen und das traditionsverhaftete Lager gegenüber – es war unklar, ob Zusammenarbeit mit der neuen Ordnung überhaupt theologisch zulässig ist.

So wurden unter Gregor XVI. und besonders Pius IX. zunächst die Grenzen markiert: „Quanta cura“ (1864) mit dem „Syllabus errorum“ weist Lehren zurück, die Religion zur Privatsache machen, die Kirche dem Staat unterstellen oder dem Staat eine schrankenlose Kompetenz auch in Glaubens- und Sittenfragen zuschreiben.

Mit Leo XIII. folgte die konstruktive Wende. Die Enzyklika „Aeterni Patris“ (1879) stellte das thomistische Denken als Programm für die Kirche bereit. In den staatsphilosophischen Enzykliken (zum Beispiel „Immortale Dei“ und „Libertas“) heißt es sinngemäß: Ja zu legitimen Formen moderner Staatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten – jedoch unter der Bedingung, dass diese an Naturrecht, Gemeinwohl und die Freiheit der Kirche gebunden sind. Ein ausdrückliches Nein wurde hingegen zum Staatsabsolutismus und zur laizistischen Verdrängung der Religion ausgesprochen.

Aus der Quelle des Naturrechts

Darauf baute Rerum novarum (1891) auf und eröffnete die systematische Soziallehre. „Mit voller Zuversicht treten Wir an diese Aufgabe heran und im Bewußtsein, dass uns das Wort gebührt. Denn ohne Zuhilfenahme von Religion und Kirche ist kein Ausgang aus dem Wirrsale zu finden“, schrieb der heilige Papst.

Leo XIII. betonte, dass das Privateigentum nicht bloß ein menschliches Konstrukt, sondern im Naturrecht begründet ist: „Es ergibt sich hieraus wieder, dass privater Besitz vollkommen eine Forderung der Natur ist“, schrieb der Papst.

Nach katholischer Lehre ist das Naturrecht das Recht, das unmittelbar aus der von Gott geschaffenen Natur des Menschen folgt. Es gilt unabhängig von positiven Gesetzen oder staatlichen Verordnungen und ist in Vernunft und Gewissen erkennbar. So hat jeder Mensch etwa das natürliche Recht, sein Leben zu erhalten, eine Familie zu gründen oder Eigentum zu erwerben. Diese Rechte gehen dem Staat voraus und können von ihm nur anerkannt, aber nicht aufgehoben werden.

Gegen den Sozialismus, für das Privateigentum

Die Sozialisten, so der Papst, „verbreiten die Behauptung, der private Besitz müsse aufhören“. Doch ihr Programm sei „sehr ungerecht“ und „führt die Staaten in völlige Auflösung“. Leo XIII. warnte: „Wenn also die Sozialisten dahin streben, den Sonderbesitz in Gemeingut umzuwandeln, (…) machen sie die Lage der Arbeiter ungünstiger. Sie entziehen denselben ja mit dem Eigentumsrechte die Vollmacht, ihren erworbenen Lohn nach Gutdünken anzulegen, sie rauben ihnen eben dadurch Aussicht und Fähigkeit, ihr kleines Vermögen zu vergrößern und sich durch Fleiß zu einer besseren Stellung emporzubringen.“

Auch die Familie wäre bedroht, denn „das sozialistische System (…) versündigt sich an der natürlichen Gerechtigkeit und zerreißt die Fugen des Familienhauses.“ Leo XIII. betonte: „Die Familie, die häusliche Gesellschaft, ist eine wahre Gesellschaft mit allen Rechten derselben (…) sie ist älter als jegliches andere Gemeinwesen, und deshalb besitzt sie unabhängig vom Staate ihre innewohnenden Rechte und Pflichten.“

In scharfen Worten fasste er zusammen: „Aus alledem ergibt sich klar die Verwerflichkeit der sozialistischen Grundlehre, wonach der Staat den Privatbesitz einzuziehen und zu öffentlichem Gute zu machen hätte.“

Aufgrund seiner materialistischen Philosophie, die den Menschen im Wesentlichen als Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse versteht und sein Glück in der Neuordnung der äußeren Besitz- und Produktionsverhältnisse sucht, ist der Sozialismus mit der katholischen Lehre also unvereinbar.

Der Schutz der irdischen Güter des Arbeiterstandes

Nicht nur gegen die Irrtümer des Sozialismus, sondern auch gegen die Schattenseiten des Kapitalismus wandte sich Leo XIII. mit der Enzyklika. Besondere Schärfe legte der Papst in die Frage des gerechten Lohnes. Den Arbeitern dürfe ihr rechtmäßiger Verdienst nicht vorenthalten werden: „Dem Arbeiter den ihm gebührenden Verdienst vorenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit.“

Gleichzeitig unterstrich Leo XIII. die Verantwortung der Arbeitgeber: Arbeiter dürften „nicht wie Sklaven angesehen und behandelt“ werden. Sie seien Menschen mit geistigen und religiösen Bedürfnissen, die geachtet werden müssten.

Auch der auf dem Liberalismus basierende ungezügelte Kapitalismus ist der katholischen Lehre fremd, da er den Menschen im Kern als ein seelenloses Individuum betrachtet, das sich über Verträge, Interessen und Marktmechanismen definiert. Er reduziert ihn auf seine Rolle als Produzent und Konsument und blendet seine geistige sowie seine übernatürliche Würde aus.

„Was sodann den Schutz der irdischen Güter des Arbeiterstandes angeht, so ist vor allem jener unwürdigen Lage ein Ende zu machen, in welche derselbe durch den Eigennutz und die Hartherzigkeit von Arbeitgebern versetzt ist, welche die Arbeiter maßlos ausbeuten und sie nicht wie Menschen, sondern als Sachen behandeln“, betonte der Papst.

Gegen solches Handeln erhebt sich nach seinen Worten „die Gerechtigkeit und die Menschlichkeit“, da die Arbeitsanforderungen oft „von solcher Höhe“ seien, „daß der Körper unterliegt und der Geist sich abstumpft.“

Ein Appell an den Staat

Eine weitere Grenze setzt Leo XIII. der rein ökonomischen Logik: „Die Sonntagsruhe bedeutet nicht so viel wie Genuss einer trägen Untätigkeit (…) Sie ist vielmehr eine durch die Religion geheiligte Ruhe von der Arbeit […] um ihn (den Menschen) aufzurufen, zu Gedanken an die Güter des Jenseits und zu den Pflichten der Gottesverehrung.“

Auch der Staat dürfe nicht zusehen: „(…) in allen diesen Fällen muss die Autorität und Gewalt der Gesetze innerhalb gewisser Schranken sich geltend machen (…) Nur so weit es zur Hebung des Übels und zur Entfernung der Gefahr nötig ist, nicht aber weiter, dürfen die staatlichen Maßnahmen in die Verhältnisse der Bürger eingreifen.“ Doch gerade die „niedere, besitzlose Masse“ müsse vom Staat „in besondere Obhut genommen werden.“

Heute stehen wir wieder vor neuen „neuen Dingen“: Die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz könnte noch tiefgreifender wirken als die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Was damals die Dampfmaschine und die Fabrik waren, ist heute ein Algorithmus, der menschliches Denken simuliert – mit großen Chancen, aber auch mit Gefahren.

So wie Leo XIII. im 19. Jahrhundert den Weg der Kirche zwischen Sozialismus und Kapitalismus wies, ist die Kirche auch heute gerufen, Orientierung zu geben. Sie erinnert daran, dass Technik und Wirtschaft dem Menschen dienen müssen. Papst Leo XIV. sieht in der KI eine der größten Herausforderungen für die Verteidigung der Menschenwürde. Er hat das Thema zu einem zentralen Schwerpunkt seines Pontifikats erklärt. Auf seine Fortführung der katholischen Soziallehre darf man also gespannt sein.


Der Autor ist katholischer Journalist und studierter Wirtschaftswissenschaftler.

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