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"Es gibt ein tiefes Unbehagen gegenüber Weiblichkeit"

Ein Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin und Theologin Abigail Favale über den Angriff auf die Familie, die Rolle des Feminismus und die Irrwege der Gender-Theorie.
Abigail Favale
| Abigail Favale plädiert dafür, unbedingt an der Realität der Geschlechter-Differenz festzuhalten.

Im Westen im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen sehen wir, wie politische Maßnahmen vorgeschlagen und in Kraft gesetzt werden, die einen Angriff auf die traditionelle Familie darstellen, wie die "Ehe" für Homosexuelle, das Konzept der Mehrelternschaft, die Liberalisierung der Abtreibung und die Legalisierung der Leihmutterschaft. Frau Favale, sehen Sie eine gemeinsame ideologische Wurzel für diese Trends?

Das zugrundeliegende Problem ist die Aufhebung natürlicher Bindungen und damit eine Aufhebung der Beziehungen, die uns von der Natur gegeben sind, insbesondere bei den Vorgängen der Fortpflanzung. Alle diese Tendenzen sind die Folge des menschlichen Versuchs, die natürlichen Grenzen dessen zu überschreiten, wie Menschen entstehen. Auf der Ebene der Natur wird jedes menschliche Wesen von einer Mutter und einem Vater gemeinsam erzeugt. Zumindest derzeit gibt es keine andere Möglichkeit, wie Menschen entstehen, auch wenn wir ständig versuchen, Technologien zu entwickeln, die uns mehr und mehr Kontrolle über diesen Prozess geben. Ich möchte einschränkend sagen, dass es bestimmte Arten der Elternschaft gibt, die nicht im strengen Sinne natürlich sind, zum Beispiel die Adoptivelternschaft. Aber in diesen Fällen wird versucht, die natürliche Realität widerzuspiegeln, während bei den anderen Dingen, die Sie beschreiben, der Versuch unternommen wird, die Natur vollständig zu ersetzen.

Wer zieht einen Vorteil aus diesen Versuchen, die natürliche Familie aufzulösen? Wer profitiert davon?

Menschen, die dies als vorteilhaft ansehen könnten, sind diejenigen, die unter der Last natürlicher Beschränkungen stehen, die die Erfüllung ihrer Wünsche oder Entscheidungen verhindern. Zum Beispiel zwei Männer, die ein Baby haben wollen:Es gibt eine biologische Grenze, die ihren Wunsch behindert. Es gibt eine allgemeine Motivation der Menschen, die Grenzen ihrer Natur zu überwinden. Die Vorstellung dabei ist, dass dies zu mehr Freiheit führt. In diesem Fall wird Freiheit als Freiheit von Grenzen und Begrenzungen verstanden, anstatt ein teleologisches Verständnis von Freiheit zu haben, demzufolge wir wirklich frei sind, wenn wir uns in unserer Natur als menschliche Wesen entfalten. Dann ist da noch die Frage, wer von diesen Dingen profitiert. Im Grunde genommen handelt es sich um das Verbrauchermodell von Angebot und Nachfrage. Es gibt einen Wunsch, und dann gibt es eine technologische und kommerzielle Lösung, um diesen Wunsch zu erfüllen, indem man den Körper und die natürliche Art der Fortpflanzung manipuliert. Es gibt einen enormen Anreiz, eine Industrie zu schaffen, die diese Wünsche erfüllt. Da ist eine Menge Geld zu verdienen.

Wie sehen Sie die Rolle des Feminismus bei diesen Entwicklungen?

Ich denke, der Feminismus ist mit vielen dieser Trends verbunden. Er ist aber nicht immer der Hauptauslöser. Manchmal denke ich, dass die Versuchung groß ist, eine bestimmte Sache zum Sündenbock zu machen. Der Feminismus geriet in seiner zweiten Welle in den 1970er Jahren auf Abwege, als sich die feministische Bewegung an den Zielen und Werten der sexuellen Revolution orientierte. Wenn man den Feminismus und die sexuelle Revolution zusammenbringt, kommt es zu den von uns beschriebenen Konsequenzen. Eine der ironischen Folgen dieser Allianz 
ist, dass der Feminismus seit der zweiten Welle ein Wertesystem angenommen hat, das implizit auf das Männliche ausgerichtet ist. Es gibt ein tiefes Unbehagen gegenüber Weiblichkeit, gegenüber der Fruchtbarkeit von Frauen, gegenüber der Fähigkeit von Frauen, schwanger zu werden, ein Kind auszutragen und zu stillen. Diese ungemein körperlichen Tatsachen erscheinen in einem liberalen kapitalistischen Kontext als unterdrückerisch. Daher bietet der Feminismus seit der zweiten Welle ein Modell der Befreiung an, das von den Frauen verlangt, sich den Männern so weit wie möglich anzugleichen, insbesondere in physiologischer Hinsicht. Durch Empfängnisverhütung und Abtreibung werden die Frauen den Männern in dem Sinne ähnlich, dass sie von der Aussicht auf eine Schwangerschaft befreit sind. Sie können Sex haben ohne die Angst, schwanger zu werden – genau wie ein Mann. Anstatt kreativ darüber nachzudenken, wie man eine Gesellschaft schaffen kann, die auf die weiblichen Gegebenheiten eingeht und sie berücksichtigt, verfolgte der Feminismus die "Lösung", den Körper der Frauen an das männliche Modell anzupassen.

Müssen wir also zwischen einem gesunden und einem ungesunden Feminismus unterscheiden?

Ja, es ist hilfreich, zwischen einer ungesunden und einer gesunden Form des Feminismus zu unterscheiden, die wirklich daran interessiert ist, dass Frauen in der Gesellschaft Seite an Seite mit den Männern gedeihen. Ich halte es für wichtig, dass es irgendeine Art von Bewegung gibt, die sich auf die besonderen Belastungen und Probleme konzentriert, mit denen Frauen in der Gesellschaft konfrontiert sind. Das derzeitige Modell der Freiheit der Frau, das Leihmutterschaft, Prostitution und Abtreibung befürwortet, untergräbt ganz klar die Würde und das Wohlergehen von Frauen. Aber wenn wir einfach nur sagten, dass jedweder Feminismus schlecht ist, dann gäbe es meiner Meinung nach eine echte Lücke. Und es gibt, zumindest in englischsprachigen Kreisen, eine wachsende Zahl sogenannter "sex realist feminists", die der Meinung sind, dass der Feminismus effektiver und gesünder ist, wenn er versucht, die natürlichen Gegebenheiten anzunehmen und mit ihnen zu arbeiten, anstatt sie ständig auf den Kopf zu stellen.

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Welche Rolle spielen die Universitäten im Allgemeinen und die Gender-Theorie im Besonderen, wenn es darum geht, ein richtiges oder falsches Verständnis von Familie zu haben?

Ich denke, es gibt eine Rückkopplungsschleife. Es gibt diese abstrakten und stumpfsinnigen akademischen Theorien, die im Elfenbeinturm entwickelt werden. Einige der grundlegenden Ideen dieser Theorien werden den Studenten im Grundstudium beigebracht, die diese Theorien dann zum Beispiel in die Personalabteilungen tragen. Auf diese Weise werden sie normalisiert, vor allem innerhalb des mittleren Managements. Und dann gibt es auch noch Leute, die in diesen Theorien ausgebildet sind und oft an der Entwicklung politischer Richtlinien beteiligt sind. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien gibt es auch das Phänomen, dass Modeerscheinungen, die sich online entwickeln, nach oben durchsickern und die Lehre an den Universitäten von unten her beeinflussen. Um ein Beispiel aus der Gender-Theorie zu nennen: Der Standard in der akademischen Geschlechtertheorie ist seit Jahrzehnten eine sozialkonstruktivistische Sichtweise von Geschlecht, der zufolge nicht nur das soziale Geschlecht (Gender), sondern sogar auch das biologische Geschlecht ein soziales Konstrukt ist. Aber auf der populären Ebene ist ein subjektivistisches Verständnis von Geschlecht dabei, sich durchzusetzen. Diesem zufolge ist das subjektive Gefühl, ob ich ein Mann oder eine Frau bin, eine zutiefst reale Angelegenheit. Dieses Verständnis von Geschlecht als inneres, subjektives Selbstverständnis kommt nun auch in der akademischen Literatur zum Vorschein.

Was ist die katholische Alternative zur gegenwärtigen Form des Feminismus und zu den gendertheoretischen Ansichten über die Familie?

In vielerlei Hinsicht sind Katholiken zu einem prophetischen Zeugnis für die Würde des menschlichen Leibes berufen, insbesondere für die Würde des geschlechtlichen Leibes. Der geschlechtliche Leib ist weder ein unterdrückerisches Konstrukt noch eine bedeutungslose Äußerlichkeit, die nur dazu da ist, mein eigenes Identitätsgefühl zu pflegen. Die meisten Ideologien und Glaubenssysteme im säkularen Westen sehen den Körper nicht als inhärent bedeutsam an. Wir sind auf seltsame Weise vom Körper besessen, aber nur als Werkzeug des Willens, das keine eigene Integrität hat, die es zu respektieren gilt.

Ist das katholische Verständnis der Familie überhaupt mit säkularen Ansichten vereinbar?

Ein Teil der wichtigen Arbeit, sich mit säkularen Ideen auseinanderzusetzen, besteht darin, sowohl gemeinsame Werte als auch abweichende Ansichten ausfindig zu machen. Letztlich ist es nicht hilfreich, auf alles, was die säkulare Welt anbietet, mit einer gänzlich abwehrenden Haltung zu reagieren. Wenn ich in meiner eigenen Arbeit den Feminismus kritisiere, tue ich das oft aus einer feministischen Perspektive heraus, mit positiver Bezugnahme auf den Wert der Entfaltung und der Würde der Frau. Ich denke, dass es sogar in den beiden Formen der Gendertheorie, über die wir gesprochen haben, Teilwahrheiten gibt. Eine der Wahrheiten in der konstruktivistischen Sichtweise von Geschlecht ist, dass die Art und Weise, wie wir über Männer und Frauen denken, zutiefst von der Gesellschaft beeinflusst wird, und dass bestimmte kulturelle oder soziale Normen weder für Männer noch für Frauen gut sein könnten. Wir sollten in der Lage sein, diese Diskussion zu führen. Und was den Subjektivismus angeht, so denke ich, dass auch er eine Wahrheit über den Menschen in den Blick nimmt, nämlich dass wir ein komplexes Innenleben und ein Konzept von uns selbst haben. Ich kann über meine Identität als Frau in einer Weise nachdenken, wie es ein Hund oder eine Katze nicht kann. Das Problem ist jedoch, dass diese beiden Ansichten einen Aspekt des Menschseins verabsolutieren, anstatt ihn auf eine vollständige Anthropologie zu gründen, die körperliche Realitäten, wie etwa sexuelle Unterschiede, als Gegebenheiten und als Geschenk einschließt.

Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste Anliegen, das Christen derzeit verteidigen müssen?

Im Moment würde ich sagen: das Festhalten an der Realität der sexuellen Unterschiede und die Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen "Frau" und "weiblich" sowie zwischen "Mann" und "männlich". Sobald diese Grenze überschritten wird, lösen sich die Beziehungen des Mutter-, Vater-, Sohn- und Tochterseins auf. Das ist etwas, das Papst Franziskus in seiner Kritik an der Gender-Ideologie als Angriff auf die natürliche Realität der Familie hervorgehoben hat. Ich denke, dies – an der Realität der Geschlechter-Differenz festzuhalten – ist ein Punkt, den wir bis zum Äußersten verteidigen sollten.


Abigail Favale ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie ist Professorin am McGrath Institute for Church Life der University of Notre Dame in Indiana. Favale trat 2014 in die katholische Kirche ein und lebt mit ihrer Familie in South Bend, Indiana. Ihr Buch "Die geleugnete Natur. Warum die Gender-Theorie in die Irre führt" erscheint im Juni 2024 in deutscher Übersetzung im Herder-Verlag.

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