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Kanzel im Wiener Stephansdom: Wie eine steinerne Blume

Im Wiener Stephansdom führt der Weg zur Kanzel für den Prediger vorbei an Lurchen und Echsen.
Kanzel im Stephansdom
Foto: wiki/Bwag | Hier macht das Predigen Freude: Kanzel im Stephansdom.

„Den Predigstuhl ich schawet an / Gedacht, wo lebt ein mensch, der khan / Von stainwerck so subtil machen?“ – so schrieb 1547 Wolfgang Schmeltzl in seinem Lobspruch der hochlöblichen weit berümbten Khünigklichen Stat Wienn, über die Kanzel im Stephansdom. Wie eine phantastische, steinerne Blume scheint sie in der Mitte des Langhauses aus dem Boden zu schlagen. In schier unüberschaubarer Fülle streben ihre hochgewachsenen Dienste, die mit kriechendem Laubwerk besetzten Schrägen und die spitzen Fialen aufwärts, überschneiden, kreuzen und durchbrechen sich und öffnen sich zum Korb der Kanzel, als wäre es die Blüte einer Distel, deren Dornen die Leiden Jesu und der Märtyrer symbolisieren. Schon wenige Jahrzehnte nach der Fertigstellung dieses spätgotischen Meisterwerks waren sich die staunenden Besucher der Wiener Kathedrale einig, vor einem wahren Schatz des Christentums zu stehen.

Die Kanzel erhebt sich am mittleren der das nördliche Seitenschiff abtrennenden Bündelpfeiler, zu dessen Füßen ein Sechspass-Sockel lagert. Auf dieser aus Lineal- und Zirkelbewegungen konstruierten, geometrischen Figur mit sechs Eck- und ebenso vielen Kreislappen ruht ein vielfach abgetreppter, sechszackiger Stern, aus dem der sechseckige Kanzelfuß aufsteigt. Begleitet wird dieser von sechs, ebenfalls sechseckigen Nebenpfeilern, die sich in Stufen von dem Stern abspalten bis sie vom Mittelpfeiler völlig losgelöst sind und zwischen ihnen nur mehr filigrane Schwib- und Strebebögen vor- und zurückschwingen. Während den Kern sechs größere Apostelstatuen zieren, sind an seinen schlanken Begleitern je drei kleinere Heiligenfiguren zu sehen; platziert in baldachinbekrönten Nischen, deren hohe Dächer in üppig gefalteten Kreuzblumen auslaufen, ehe sich darüber der Kanzelkorb blütenförmig weitet.

Der bellende Hund

Zur diesem hinauf führt eine elegante, um den Pfeiler der Kirchenschiffs gelegte Treppe. Das Geländer besteht aus zarten Maßwerkkreisen, in die abwechselnd Drei- und Vierschneuße eingeschnitten sind; je drei oder vier tropfenförmige Elemente, die um ein gemeinsames Zentrum rotieren. Eine Besonderheit stellt der Handlauf dar, auf dem Eidechsen, Kröten und Schlangen auf- und abwärts kriechen, sich anfauchen oder ineinander verbeißen. Ganz oben wird das Kriechgetier vom Hündchen ohne Furcht verbellt, wie der Volksmund die Steinskulptur am Eingang des Kanzelkorbs getauft hat. Im Verständnis der Zeit dürfte der bellende Hund für den Prediger stehen, der seine Wachsamkeit und Beredsamkeit von der Kanzel herab gegen die Häretiker in Stellung bringt – eine Allegorie auf den Erfolg der Verkündigung, und tatsächlich ist die zuoberst platzierte Eidechse bereits wieder auf dem Rückzug.

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In die Brüstung des Kanzelkorbes sind Büsten der vier Kirchenväter eingelassen, die wie die gesamte Kanzel aus gut formbarem Breitenbrunner Kalksandstein gearbeitet wurden. Mit den Armen gestützt auf je eine heilige Schrift zeichnete der Bildhauer die Portraits der Kirchenlehrer mit größtmöglicher Individualität, als habe er lebendige Vorbilder gehabt. Zugleich entwirft er Idealbilder der vier Temperamente gemäß der Humorallehre. Als Melancholiker mit knochigem Gesicht erscheint der Heilige Augustinus. Er hat das Kinn in seine Linke gestützt; müde blicken seine Augen in eine Welt, die nicht mehr die seine ist. Demgegenüber schaut der ebenfalls mit einer Mithra bedeckte Sanguiniker Ambrosius geradezu heiter von der Kanzel herab. Er steht in der Blüte seiner Jahre, ist ein bärtiger Mann voll Saft und Kraft. Als zahnloser Greis mit Kardinalshut tritt dagegen Hieronymus auf. Obwohl Gesicht und Lippen von tiefen Falten zerfurcht sind, verraten seine sehnigen Hände die willensstarke Tatkraft des Cholerikers. Für den mit der Tiara bekrönten heiligen Gregor wählte der Bildhauer den ältlichen, korpulenten Typus des Phlegmatikers – skeptisch schiebt der große Kirchenlehrer seine Unterlippe vor; schlaff hängt die Haut seiner Backen.

Variantenreiche Charaktere

Das Mienenspiel der verschiedenen Charaktere, die Plastizität der Gewandfalten und der Variantenreichtum bei der Durchbildung der ringgeschmückten Hände und der Halspartien verraten, dass hier ein großer Meister am Werk war. Womöglich hat er uns stolz sein Portrait hinterlassen, denn unterhalb der Treppe zur Kanzel befindet sich ein aus dem Stein gehauenes Fenster, aus dem selbstbewusst der sogenannte Fenstergucker herausblickt. In der Rechten hält er den Zirkel der Baumeister. Das ernste, von markanten Backenknochen geprägte Gesicht ist von Locken umflort, über seinem Wams trägt er eine Schaube und das Haupt bedeckt ein Barett – hier stellt sich ein Mitglied der städtischen Oberschicht vor. Doch obwohl wir sein Aussehen kennen – seinen Namen hat uns der Künstler nicht hinterlassen. Die Tradition schrieb das Bildnis dem aus Brünn stammenden Anton Pilgram zu, der hier nicht mehr mittelalterlich-anonym, sondern renaissancehaft-individuell hinter seiner Kunst hervortritt. Dafür spricht zwar, dass darüber sein Steinmetzzeichen prangt, doch ist die Ähnlichkeit mit der ebenfalls ihm zugeordneten Büste unter der Orgelempore nur so, so. Die neuere Forschung hält daher einen nur von seinem Monogramm bekannten Meister MT für möglich, eventuell auch einen gänzlich unbekannten aus der Werkstatt Niclas‘ Gerhaerts van Leyden – letztlich bleiben entwerfender Architekt und ausführender Künstler namenlos.

Die Kanzel in der Reformation

Als die Kanzel kurz nach 1500 fertiggestellt war, wehte die Reformation durch die Kaiserstadt. Vom Predigtstuhl herab griff der Reformator Paul Speratus am 12. Januar 1522 das Zölibatsgelübde an; die versammelten Ordensleute Wiens forderte er auf, aus ihren Konventen auszutreten. Obwohl Speratus bald darauf exkommuniziert wurde, griff die reformierte Lehre sukzessive um sich; in Wien und im Umland wurde lutherisch gepredigt; zwei Jahrzehnte gab es keine Priesterweihe mehr. Daran änderte erst der Einzug der Jesuiten etwas. Von 1552 – 56 weilte der heilige Petrus Canisius in der Donaustadt, wirkte als Domprediger und verfasste hier seine Katechismen – die Gegenreformation ergriff endgültig Besitz von der Kanzel. Dramatisch in ihrer Geschichte war auch der 7. Oktober 1938. Seit dem Anschluss Österreichs an die Hitlerdiktatur waren katholische Vereine verboten. Dem zum Trotz lud der Wiener Erzbischof Theodor Kardinal Innitzer, der ein Zusammengehen mit Deutschland anfangs eher begrüßt hatte, die österreichische Jugend zur Rosenkranzandacht ein. Statt der erwarteten dreihundert aber füllten schließlich an die 9 000 Jugendliche den Stephansdom bis auf den letzten Platz – eine eindrucksvolle Kundgebung. Der Kardinal bestieg die Kanzel und sprach die berühmten Worte: „Jetzt [müssen wir uns] umso standhafter zum Glauben bekennen, zu Christus – unserem Führer!“ Die Menge brach in Jubel aus und nicht wenige Historiker sehen in der Andacht – in den Kanzelworten – den Beginn des katholischen Widerstands in Österreich. Das Regime reagierte empfindlich – die Hitlerjugend verwüstete tags darauf auf Bestellung das erzbischöfliche Palais.

An Prominenz eingebüßt

Weitaus größere Verwüstungen trafen Wien in den folgenden Weltkriegsjahren. Der Stephansdom blieb zwar von Bombenangriffen weitgehend verschont, doch am 12. April 1945 verbrannten der Dachstuhl und der Glockenturm mit der berühmten Pummerin; Feuer war von Nachbargebäuden auf die Kathedrale übergesprungen. Der aus Eichen- und Lindenholz geschnitzte Schalldeckel, den die Kanzel bis dahin noch hatte, wurde aber glücklicherweise kein Raub der Flammen, sondern sozusagen ein Opfer der Wissenschaft. Beim Wiederaufbau bemerkte man nämlich, dass die Darstellungen auf dem mittels einer Eisenstange am Kirchenpfeiler befestigten Kanzeldach zu den Reliefs der sieben Sakramente passen. Diese aber finden sich am Taufstein des Doms, und so wanderte die engelsgeschmückte, siebenseitige Spitze in die Katharinenkapelle, wo sich das Taufbecken heute befindet.

Seit dem zweiten Vaticanum hat die kunst- und kulturgeschichtlich bedeutende Kanzel an Prominenz eingebüßt. Nur zu den Fastenzeiten sowie an den Herz-Jesu-Freitagen wird von dort oben noch verkündigt, steigt der Prediger an Lurchen und Echsen vorbei auf die Kanzel hinauf. Ob es dem Hütehund noch einmal gelingen wird, den Kampf um seine Herde zu gewinnen? Warum eigentlich nicht?

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