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Jiddische Kultur in der Ukraine

Die jiddische Kultur spielte in der Ukraine schon immer eine große Rolle. Ihre Vitalität wirkt weiter.
SIMFEROPOL RUSSIA JUNE 9 2018 Restoration works underway in a kenesa an East European synagogu
Foto: Imago/Sergei Malgavko | Befreiung von Nazis? Eine der wenigen verbliebenen Synagogen in Simferopol wurde unter der russischen Okkupation geschändet.

Die New Yorker jiddische Band „Litvakus“ von Dmitri Zisl Slepovitch hat berühmte jiddische Lieder der 1920er Jahre umgedichtet und sie so zu Widerstandsliedern gegen Putins Krieg und gegen die Annexion der Krim gemacht. So findet man auf Zisl's neuem Album „Shtetl“, das eigentlich den untergegangenen jüdischen Siedlungen Osteuropas gewidmet ist, das Lied „Dzhankoye“ der jüdischen Kolchosearbeiter der 1920er- und 1930er Jahre auf der Krim, die wie die Zionisten in Palästina eine neue jüdische Heimat mit landwirtschaftlichen Siedlungen aufbauen wollten. „Dzhankoye“ war so etwas wie die jüdische Hatikva der Sowjetunion. In der Nähe der Stadt Dzhankoy auf der Krim entstanden seit 1923 Orte mit den hoffnungsvollen Namen: Fraylebn (jiddisch: Freies Leben), Fraydorf (Freies Dorf), Jidendorf (Jüdisches Dorf), Ahdut (Einheit), Yetsirah (Schöpfung), Herut (Freiheit) und Pobeda (russisch: Sieg). Dies waren nur einige Namen der mehr als 50 jüdischen Kolchosen auf der Krim, von denen eine sogar von Rückwanderern aus En Harod in Palästina gegründet wurde.

Juden leben seit der Antike auf der Halbinsel Krim, weitgehend in zwei Gemeinschaften geteilt: die Krymtschaken, die dem rabbinischen Judentum folgten, und die Karaiten, die die mündliche Interpretation der Thora ablehnten.

Besiedelung der Krim

Bald nachdem Katharina die Große 1783 die Krim vom Osmanischen Reich erobert hatte, öffnete sie sie für die jüdisch-aschkenasische Besiedlung, in der Hoffnung, dass die Juden als Bollwerk gegen die Türken dienen würden. Zehntausende meist junger Juden ließen sich im Laufe des nächsten Jahrhunderts in diesem Teil des „Neuen Russland“ nieder. Nur hier konnten sie frei leben, während sie im Rest des Zarenreiches verfolgt wurden.

In den frühen 1920er Jahren richtete die neue Sowjetregierung ihre Aufmerksamkeit auf die Halbinsel Krim und man entdeckte in den jüdischen Zionisten ideale Verbündete. Besorgt darüber, dass viele Russen, Krimtataren, Ukrainer und Krimdeutsche, die die Region hauptsächlich bevölkerten, Antikommunisten waren, immerhin war Jalta die Sommerresidenz des russischen Zaren, wollten die Moskauer Sowjetfunktionäre mit den Juden zuverlässige und loyale Neusiedler auf die landwirtschaftlich reiche Halbinsel locken. Sogar jüdische Organisationen in den USA waren bereit, diese Siedlungen zu unterstützen. Im Jahr 1923 nahm das Politbüro einen Vorschlag zur Gründung einer jüdischen Autonomen Region auf der Krim an. In den nächsten Jahren entstanden zahlreiche jüdische Kolchosen und sogar zwei jüdische Rayons (Festungszonen), Larindorf und Fraydorf, im Norden der Krim. Der Traum vom Aufbau einer jüdischen Republik auf der Krim blieb bis 1928 lebendig, als die Juden mit Birobidschan in Fernost eine andere Region als ihr nationales Zentrum in der Sowjetunion zugewiesen bekamen. Die meisten jüdischen Kolonisten auf der Krim flohen vor Ankunft der deutschen Truppen nach Osten, um sich weit vor der Front in Sicherheit zu bringen, bis nach Kasachstan oder Usbekistan. Dort bauten sie ihre Kolchosen wieder auf.

Stalinsche Deportationen

Während des 2. Weltkrieges entsandte Stalin zwei Vertreter des neu gegründeten sowjetisch-jüdischen Antifaschistischen Komitees – den jiddischen Schauspieler Solomon Mikhoels und den jiddischen Dichter Itsik Fefer – in die Vereinigten Staaten und andere alliierte Länder, um bei den westlichen Juden Unterstützung für die sowjetischen Kriegsanstrengungen zu gewinnen. Im Jahr 1944 vertrieb die Rote Armee die Wehrmacht von der Krim. Nach Kriegsende befahl Stalin die Deportation von etwa 180 000 muslimischen Krimtataren als Vergeltung für ihre angebliche Kollaboration mit dem Feind. Bald darauf kehrten Zehntausende von Juden aus dem Osten auf die Krim zurück, um ihre Kolonien, die zwischenzeitlich teilweise von den Tataren übernommen worden waren, wieder zu besiedeln. Als es an einigen Ort zu chaotischen Zuständen kam, trafen sich Mikhoels und Fefer mit dem sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow und diskutierten mit ihm wieder die Idee der Gründung einer jüdischen Autonomie auf der Krim. Molotow zeigte Sympathie für die Anliegen der sowjetischen Juden, seine Frau, Polina Zhemchuzhina, stammte selbst aus einer jüdischen Familie im Süden der Ukraine und hatte eine Schwester, die nach Palästina ausgewandert war. Mikhoels und Fefer verließen das Treffen in der Überzeugung, dass Molotow den Plan unterstützen würde, und schickten Stalin ein Memorandum, in dem der Vorschlag skizziert wurde.

Frontalangriff gegen das sowjetische Judentum

Doch gerade dieses „Krim-Memorandum“ benutzte Stalin als Vorwand, um einen Frontalangriff auf das sowjetische Judentum zu starten. Die Abstimmung der Vereinten Nationen zur Gründung des Staates Israel im November 1947 hatte Stalin wütend und eine jüdische Heimat auf der Krim überflüssig gemacht. Stalins psychotischer Verfolgungswahn richtete sich jetzt auch gegen die Juden.

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In der Nacht vom 12. Januar 1948 ließ Stalin Mikhoels ermorden; dies war der Beginn seiner Kampagne gegen die sowjetischen Juden. In den folgenden 13 Monaten wurden Fefer, Zhemchuzhina und zahlreiche andere prominente Mitglieder des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“ verhaftet. Zhemchuzhina wurde nach Kasachstan verbannt, ihr Mann, Außenminister Molotow, fiel bei Stalin in Ungnade und musste sich von seiner Frau scheiden lassen. 15 weitere jüdische Aktivisten wurden unter dem Vorwurf der Verschwörung mit den Vereinigten Staaten zur Gründung einer jüdischen Republik auf der Krim im Geheimen angeklagt.

Ermordete Dichter

Am 12. August 1952, in der sogenannten „Nacht der ermordeten Dichter“, wurden 13 der Angeklagten, darunter Fefer und die bekannten jiddischen Schriftsteller David Bergelson, David Hofshteyn, Leyb Kvitko, Peretz Markish und der jiddische Schauspieler Benjamin Zuskin, im Moskauer Lubjanka-Gefängnis hingerichtet. Zwei Jahre später regelte Stalins Nachfolger, der Ukrainer Nikita Chruschtschow, das Schicksal der Krim neu. Er gliederte die Halbinsel an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik an. Dies hat Putin 2014 rückgängig gemacht.

Heute leben noch etwa 17 000 Juden auf der russisch besetzten Halbinsel. Eine der wenigen verbliebenen Synagogen in Simferopol wurde unter der russischen Okkupation geschändet, als Hakenkreuze an ihre Tür gemalt wurden. Dennoch will Putin seit Februar die Ukraine von Nazis befreien, nicht die Krim. Dabei sind die jiddische Sprache und Kultur sind heute genauso bedroht wie die Existenz der Ukraine, wo mit Tschernowitz eines der Zentren dieser Kultur lag.

Ist es ein Zufall, dass der orthodoxe Oberrabbiner Moskaus, Pinchas Goldschmidt, einst ein Freund Putins, Russland verlassen hat, weil er den Krieg Putins nicht unterstützen will?

Sie brauchen kein Putinland

Im Refrain des Liedes „Dzkankoye“ heißt es in der Neufassung jedenfalls: „Vet men kemfn, vet men hofn, in ergets vet men nit antlofn, Darf men nit keyn Putinland. Sonim varfn bombes, mines, Ober lebt nokh Ukraine, Ale mentshn shteyen nokhanand.“ (Sie werden kämpfen, sie werden hoffen, Sie werden nicht weglaufen, Sie brauchen kein Putinland. Die Feinde werfen Bomben und Landminen. Aber die Ukraine lebt noch, Alle Menschen stehen zusammen.) Und in den beiden letzten Strophen lauten die Worte nun: „Darft men nit keyn Rusenland. Krim gehert tsu Ukraine, – Lebn unter okupatsye 'z nit keyn yontef, keyn vakatsye.“ (Russland hat kein Recht, die Krim gehört zur Ukraine. Das Leben unter der Okkupation ist kein Fest und kein Urlaub.)

So einfach lassen sich Vergangenheit und Gegenwart verknüpfen.

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