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Barrie Koskys finales Bühnenspektakel zum Kafka-Jahr

Das Berliner Ensemble präsentiert „K. Ein talmudisches Tingeltangel rund um Kafkas Process“- nach Franz Kafka mit Musik von Bach über Schumann bis zu jiddischem Vaudeville.
Regisseur Barrie Kosky (l.) hat seinen Franz Kafka im Berliner Ensemble mit der Schauspielerin  Kathrin Wehlisch besetzt.
Foto: MaurizioxGambarini (www.imago-images.de) | Regisseur Barrie Kosky (l.) hat seinen Franz Kafka im Berliner Ensemble mit der Schauspielerin Kathrin Wehlisch besetzt.

Bevor es losgeht im ausverkauften Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm, werden die Anfangssätze aus Kafkas „Hungerkünstler“ auf den geschlossenen Vorhang projiziert, in leicht verwischter Schreibmaschinentypografie. Dann öffnet er sich, und Kathrin Wehlisch steht als K. in altmodischer weißer Unterwäsche auf der Bühne, aus dem Bett geholt von zwei Beamten, die K. verhaften wollen. Ein Grund wird nicht genannt, weder jetzt noch überhaupt. "Jemand musste mich verleumdet haben", bricht es aus K. heraus, es ist der hier personalisierte berühmte Beginn von Franz Kafkas Roman "Der Prozess". Und der ist der rote Faden dieser Inszenierung, untermalt von weiteren Textelementen aus Kafkas Werk und einer umwerfenden Musikgestaltung. 

Der deutsch-australische Theater- und Opernregisseur Barrie Kosky ist geprägt von seinen jüdischen Wurzeln und seit seinem 13. Lebensjahr fasziniert von Franz Kafka: „Kafka rührt bei mir an etwas ganz Fundamentales, gleichzeitig zutiefst Persönliches.“ So auch „Der Prozess“: „Das bürokratische Labyrinth interessiert mich überhaupt nicht. Kafka ist für mich ein lebendes jüdisches Fragezeichen. Der Apparat im 'Prozess' ist nicht die Bürokratie, der Apparat ist das Judentum." In seiner Kafka-Revue versucht er nun die Quadratur des Kreises: alles zusammenzubringen, was für ihn Franz Kafka ausmacht – Biografie, Werk, Begeisterung für jiddisches Theater und Vaudeville und seine lebenslange ambivalente Auseinandersetzung mit dem Judentum, und das in gut drei Stunden.

Ratlos, verzweifelt, tieftraurig, humorvoll

Da brennt ein farbenprächtiges Feuerwerk aus verschiedensten Elementen ab, der rätselhafte Vorgang des Prozesses wird unterbrochen von grotesken Vaudeville-Tänzen der 1920er Jahre, die das singende und tanzende Ensemble perfekt beherrscht. Die grandiose Kathrin Wehlisch verkörpert K. als chaplineske Figur in Stummfilmmanier, gleichzeitig ratlos, verzweifelt und tieftraurig, gepaart mit widerständigem Humor, steht sie vor dem ihr widerfahrenden Unrecht. Mimik und Gestik spiegeln jede noch so winzige Gefühlsregung, in vollendeter Körperbeherrschung bewegt sich die Schauspielerin durch den Abend und schafft es zum Ende sogar noch, einen fulminanten Stepptanz aufs Bühnenparkett zu legen. 
Ein bunter Bilderreigen wechselt sich ab; wir sind in K.s Wohnung mit der Vermieterin Frau Grubach, die als Kammerjägerin einen Plastikkanister mit Käfer auf dem Rückenträgt („Die Verwandlung“!); am Müritzer Ostseestrand mit Dora Diamant, der letzten Liebe Kafkas; im Gerichtssaal, dessen Bänke auch wunderbar in die Synagoge passen (Bühne und Kostüme von Katrin Lea Tag); beim Advokaten, der nur als Stimme existiert; und schließlich im Sanatorium in Klosterneuburg, das Kafka nicht mehr verlassen wird, er stirbt dort am 3.6.1924 an Lungentuberkulose.

Ein Sprachwirbel aus Deutsch, Jiddisch und Hebräisch (mit Untertiteln) prasselt von der Bühne auf die Zuschauer nieder und erfordert ihre volle Konzentration. Und mitten in all dem furiosen Durcheinander kippt die Stimmung immer wieder ins Ruhige, Tragische, Metaphysische. Die Szenen in der Synagoge, wenn K. auf Hebräisch aus Kafkas „Vor dem Gesetz“ liest und dabei die Thora vor sich hat, wenn eine historische Aufnahme vom „Kol Nidre“ erklingt, dem Gebet, das den jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur einläutet und das die Gläubigen von allen unwissentlich oder unüberlegten Gelübten befreit – da scheint etwas auf von der Tiefe der gequälten jüdischen Seele, das ans Herz greift. 

Barrie Kosky ist ein Meister der rasanten Szenen- und somit auch Gefühlswechsel, in seinen Inszenierungen liegen Lachen und Weinen dicht beieinander. Emotional befeuert von der kongenialen musikalischen Gestaltung Adam Benzwis, der auch das kleine Orchester dirigiert, reicht das musikalische Spektrum hier von (verswingtem) Bach über jiddische Lieder bis zu Schumanns „Dichterliebe“, gesungen von der Sopranistin Alma Sadé in der Rolle der Dora Diamant, mit Texten von Heinrich Heine, die Anna Rozenfeld ins Jiddische übertragen hat.

„Es gibt keine Erlösung“

Das Ensemble leistet schier Übermenschliches, alle sprechen in den erforderlichen Sprachen, sie singen, tanzen und spielen in mehreren Rollen (außer Kathrin Wehlisch als K.): Constanze Becker tritt auf als Frau Grubach, Prügler und Leni und darf so alle ihre vorhandenen Register ziehen, Joyce Sanhá ist mal Franz, mal Kaplan, mal die Frau des Gerichtsdieners, der wiederum – wie auch Willem, Frl. Bürstner und Advokat Huld – von Gabriel Schneider gespielt wird. Paul Herwig ist Der Aufseher, Untersuchungsrichter und Angeklagter, Alexander Simon Onkel Karl und Martin Rentzsch Kaufmann Block.

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Barrie Kosky tat gut daran, „seinen“ Kafka erst jetzt, ein Jahr nach dem 100. Todestag mit all seinen Gedenkfilmen, -texten und -veranstaltungen zu präsentieren, wenngleich diese eindrückliche Inszenierung vermutlich alles andere in den Schatten gestellt hätte. Er hat sich tief in die Kafkasche Welt hineingegraben, in seine Widersprüche im Dichten und im Leben. 

„Es ist kein biografischer Abend, aber Schreiben war für Kafka keine Selbstverständlichkeit, sondern eine zutiefst persönliche Angelegenheit, ein Kampf mit sich selbst, ein Gebet, wie er es einmal nannte; eine Lebensversicherung, ein Sich-des-Lebens-versichern, Schutz vor und Bewältigung der ihn bedrängenden Welt, Fluch und Segen, Folter und Rausch, Begrenzung und Entgrenzung, einfach alles. Die unendlich scheinende Deutbarkeit von Kafkas Texten erinnert dabei in Form und Stil an talmudische Schriften (...)“ 

Die verwendeten Texte neben dem „Prozess“, „Der Hungerkünstler“, „Die Strafkolonie“ und „Das Urteil“, bieten keine Erlösung: „Es gibt keine Erlösung in Kafkas Welt – weder in der gelebten noch in der imaginierten.(...) Doch bleibt es immer eine Kunst zum Tode, ein Leben zum Tode hin (...) Ein Spiel zum Tode.“ Ob der Titel „K.“ vielleicht auch für „Kosky“ steht? Oder für Kathrin (Wehlisch)? Oder für uns alle? Ein weiteres Rätsel.


„K.“ im Berliner Ensemble, weitere Vorstellungen: 29.11. / 30.11. 

https://www.berliner-ensemble.de/inszenierung/k 

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