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Tocqueville und die Freiheit der Religion

Martin Grichting präsentiert Alexis de Tocqueville als Vordenker einer fruchtbaren Trennung von Staat und Kirche, wie sie auch das Zweite Vatikanum vertreten hat.
Alexis de Tocqueville, hier auf einem Porträt (1850) von Théodore Chassériau
Foto: (www.imago-images.de) | Die Freiheit im Blick: Alexis de Tocqueville, hier auf einem Porträt (1850) von Théodore Chassériau.

Die Frage nach dem richtigen Verhältnis von demokratischem Rechtsstaat und den Religionen ist bis heute nicht geklärt. Ob katholische Bischöfe, die sich berufen fühlen, die Gläubigen vor der Wahl der AfD zu warnen, der Dauerstreit um das Kreuz in bayerischen Ämtern und Gerichten oder die Auseinandersetzung um den von der Stadt Köln zugelassenen Muezzinruf – an zahllosen kleineren und größeren Beispielen zeigt sich, wie schwer sich sowohl der Staat als auch die Religionen beim richtigen Umgang mit der jeweils anderen Sphäre tun.

Religionsfreiheit und die Hermeneutik der Reform in Kontinuität

Für Katholiken hat die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat, und damit zusammenhängend: der Religionsfreiheit, mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine neue Antwort erhalten. Es ist bezeichnend für die Bedeutung dieses Themas, dass die schärfsten Kritiker des Zweiten Vatikanums insbesondere dessen Ausführungen zur Religionsfreiheit für problematisch oder gar unhaltbar erachteten. Folgt man jedoch der von Benedikt XVI. gelehrten Hermeneutik der Reform in Kontinuität, ist das Neue, das sich in den Dokumenten des Zweiten Vatikanums zeigt, keine freie Neuerfindung oder grundlegende Veränderung, sondern vielmehr ein Ausdrücklichmachen von etwas, das unausgesprochen bereits zuvor in der Lehre der Kirche angelegt war.

Martin Grichting, Priester und habilitierter Kirchenrechtler, hat sich nun in einer ebenso kompakten wie lesenswerten Monographie mit der Beziehung von Kirche und Staat und dem Wert der Religionsfreiheit auseinandergesetzt. In dem mit „Religion des Bürgers statt Zivilreligion“ betitelten Essay arbeitet sich Grichting aber nicht an den einschlägigen Dokumenten des Zweiten Vatikanums ab. Stattdessen stellt er mit Alexis de Tocqueville (1805–1859) einen Denker ins Zentrum seiner Überlegungen, den man vielleicht nicht unmittelbar mit dem Katholizismus in Verbindung gebracht hätte.

Tocqueville trifft ins Schwarze

Grichting gelingt es, Tocqueville als Vordenker der vom Zweiten Vatikanum vertretenen Position zur Trennung von Kirche und Staat zu präsentieren. Hauptbezugspunkt für Grichtings Überlegungen ist Tocquevilles zweibändiges Meisterwerk „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/1840), in dem er die junge Demokratie der Vereinigten Staaten einer schonungslosen Analyse unterzogen hat.

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Es ist stupend, wie sehr Tocquevilles Beobachtungen und Reflexionen heute noch ins Schwarze treffen – und zwar nicht nur mit Blick auf die Vereinigten Staaten, sondern bezüglich aller westlichen Länder, die das Modell der liberalen Massendemokratie übernommen haben: Das aus seinen tradierten sozialen Verbänden herausgelöste Individuum ist auf sich und sein Streben nach Bedürfnisbefriedigung zurückgeworfen. „Über diesen vereinzelten Menschen“, so Grichtings treffliche Zusammenfassung Tocquevilles, „erhebe sich eine gewaltige, bevormundende Macht. Diese sei nicht despotisch, sondern daran interessiert, den Menschen ihre Genüsse zu ermöglichen“. Gerade durch einen solchen wohlwollenden Gouvernantenstaat droht aber der Bürger seiner Mündigkeit und damit auch seiner Freiheit verlustig zu gehen.

Religion als Bollwerk gegen den Gouvernantenstaat 

Das entscheidende Bollwerk gegen diese Gefahr ist für Tocqueville die Religion. Denn nur die Religion ist ihm zufolge imstande, die Sittlichkeit der Bürger zu garantieren, die wiederum notwendig ist für einen vernünftigen und verantwortlichen Gebrauch der Freiheit. Damit hat Tocqueville, wie Grichting richtig bemerkt, auch das berühmte Diktum des Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde vorweggenommen, das sinngemäß besagt: „Der freiheitlich-säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Die Trennung von Kirche und Staat und die Einführung der Religionsfreiheit kommen nach Grichting sowohl dem Staat als auch der Religion zugute. Durch die wechselseitige Freigabe – was keinen Laizismus impliziert – werde jede der beiden Sphären in ihrem autonomen Wesen gestärkt. Die vom Zweiten Vatikanum geforderte Anerkennung der „Autonomie der irdischen Wirklichkeit“ gereicht, so argumentiert Grichting mit Tocqueville, nicht zuletzt der Religion selbst zum Vorteil. Das soll zumindest für alle Christgläubigen gelten, ist doch die Freiheit für Tocqueville eine „Tochter des Christentums“.

Was ist dem Islam?

Strittiger ist dagegen der Umgang mit dem Islam, der von Haus aus wohl am stärksten unter allen Religionen dazu neigt, „politische und religiöse Autorität“ zu vermengen. Grichting verweist in diesem Kontext erneut auf Böckenförde, der einerseits Religionsfreiheit für Muslime unabhängig von Wertbekenntnissen forderte, andererseits aber zum Schutz der freiheitlichen Demokratie auf die Notwendigkeit der Migrationsbeschränkung aus islamischen Ländern verwies.

Der Blick auf den Status quo weckt allerdings Zweifel, ob der von Grichting im Anschluss an Tocqueville befürwortete Weg wirklich so gedeihlich für das Christentum und das Gemeinwesen ist: Die Gesellschaft ist tief gespalten und die Amtskirche in einer tiefen Glaubenskrise. Diese bitteren Fakten bedürfen jedenfalls einer Erklärung und es scheint zumindest fraglich, ob Tocqueville sie liefern kann.

Unter dem Strich jedoch besticht dieses wichtige Buch durch Kenntnisreichtum, Klarheit in der Argumentation sowie eine verständliche und flüssige Wissenschaftsprosa zu einem ungelösten Kernproblem der Moderne. Nur die auffällig schlechte Druckqualität des Einbandes, die jedoch selbstredend nicht der Autor, sondern der Verlag zu verantworten hat, trübt den exzellenten Gesamteindruck in äußerlicher Hinsicht ein wenig.


Martin Grichting: Religion des Bürgers statt Zivilreligion. Zur Vereinbarkeit von Pluralismus und Glaube im Anschluss an Tocqueville. Schwabe Verlag, Basel 2024, 108 Seiten, EUR 23,–

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