Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Papstkatechesen zum Gebetsjahr 2024

Papstkatechese: Jesus, Lehrer des Gebets

Die täglichen Probleme werden zum Ruf Gottes, wenn wir das Gebet als Lebensregel annehmen, sagt Papst Franziskus.
Betende Frau
Foto: imago stock&people | Wieder die richtige Dimension finden: Frau im Gebet.

In seinem öffentlichen Wirken greift Jesus beständig auf die Kraft des Gebets zurück. Die Evangelien zeigen es uns, wenn er sich an abgelegene Orte zurückzieht, um zu beten. Es handelt sich um nüchterne und zurückhaltende Anmerkungen, die nur eine vage Vorstellung von jenen betenden Gesprächen geben. Sie bezeugen jedoch deutlich, dass Jesus auch in den Augenblicken großer Hingabe an die Armen und die Kranken nie sein inniges Gespräch mit dem Vater vernachlässigte. Je mehr er in die Nöte der Menschen eingetaucht war, desto stärker verspürte er die Notwendigkeit, in der dreifaltigen Gemeinschaft zu ruhen, zum Vater und zum Heiligen Geist zurückzukehren. Im Leben Jesu gibt es also ein Geheimnis, das dem menschlichen Auge verborgen ist und das den Höhepunkt von allem darstellt.

Das Gebet Jesu ist eine geheimnisvolle Wirklichkeit, von der wir nur etwas erahnen, die es jedoch gestattet, seine ganze Sendung in der richtigen Perspektive zu betrachten. In jenen einsamen Stunden – vor Tagesanbruch oder in der Nacht – taucht Jesus in seine Vertrautheit mit dem Vater ein, also in die Liebe, nach der jede Seele dürstet. Das tritt schon in den ersten Tagen seines öffentlichen Wirkens zutage. An einem Sabbat zum Beispiel verwandelt sich der Ort Kafarnaum in ein „Feldlazarett“: Nach Sonnenuntergang werden alle Kranken zu Jesus gebracht, und er heilt sie. Vor Tagesanbruch verschwindet Jesus jedoch: Er zieht sich an einen einsamen Ort zurück und betet. Simon und die anderen suchen ihn, und als sie ihn finden, sagen sie zu ihm: „Alle suchen dich!“ Was antwortet Jesus? „Ich muss in die anderen Dörfer gehen, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen“ (vgl. Mk 1,35-38).

Der erste Wunsch des Tages

Immer ist Jesus etwas weiter, weiter im Gebet mit dem Vater und weiter, in anderen Dörfern, anderen Horizonten der Verkündigung. Das Gebet ist das Steuerruder, das die Route Jesu vorgibt. Die Etappen seiner Sendung werden nicht von den Erfolgen, nicht vom Konsens, nicht von jenem schmeichelhaften Wort „alle suchen dich“ diktiert. Der Weg Jesu wird vom unbequemeren Pfad vorgegeben, der jedoch der Eingebung des Vaters gehorcht, die Jesus in seinem einsamen Gebet hört und annimmt. Im Katechismus heißt es: „Wenn Jesus betet, lehrt er uns schon beten“ (Nr. 2607).

Dem Vorbild Jesu können wir daher einige Merkmale des christlichen Gebets entnehmen. Vor allem besitzt es eine Vorrangstellung: Es ist der erste Wunsch des Tages – etwas, das man bei Tagesanbruch praktiziert, bevor die Welt erwacht. Es gibt dem, was sonst ohne Atem bliebe, wieder eine Seele. Ein Tag, der ohne Gebet gelebt wird, läuft Gefahr, zu einer lästigen oder langweiligen Erfahrung zu werden: Alles, was uns geschieht, könnte für uns zu einem schlecht ertragenen und blinden Schicksal werden. Jesus dagegen erzieht zum Gehorsam gegenüber der Wirklichkeit und daher zum Hören.

Gebet als Lebensregel

Das Gebet ist vor allem Hören und Begegnung mit Gott. Dann werden die täglichen Probleme nicht zu Hindernissen, sondern zu einem Ruf Gottes, jene anzuhören und jenen zu begegnen, die vor uns stehen. Die Prüfungen des Lebens werden so zu Gelegenheiten, im Glauben und in der Liebe zu wachsen. Der tägliche Weg, einschließlich der Mühen, nimmt die Perspektive einer „Berufung“ an. Das Gebet hat die Macht, das, was im Leben sonst eine Verurteilung wäre, in Gutes zu verwandeln; das Gebet hat die Macht, dem Verstand einen großen Horizont zu öffnen und das Herz weiter zu machen. Zweitens ist das Gebet eine Kunst, die mit Beharrlichkeit geübt werden muss. Jesus selbst sagt zu uns: klopft an, klopft an, klopft an. Wir alle sind fähig zu punktuellen Gebeten, die aus dem Gefühl des Augenblicks heraus entstehen; aber Jesus erzieht uns zu einer anderen Art von Gebet: zu einem Gebet, das eine Disziplin, eine Übung kennt und das im Rahmen einer Lebensregel angenommen wird. Ein beharrliches Gebet führt einen allmählichen Wandel herbei, macht stark in Zeiten der Not, schenkt die Gnade, gestützt zu sein von dem, der uns liebt und uns immer schützt.

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Ein weiteres Merkmal des Gebets Jesu ist die Einsamkeit. Wer betet, flieht nicht vor der Welt, sondern zieht einsame Orte vor. Dort, in der Stille, können viele Stimmen auftauchen, die wir im Innern verbergen: die verdrängten Wünsche, die Wahrheiten, die wir beharrlich unterdrücken und so weiter. Und vor allem spricht Gott in der Stille.

Dein Wille geschehe

Jeder Mensch braucht einen Raum für sich selbst, wo er das eigene innere Leben pflegen kann, wo das Handeln wieder einen Sinn findet. Ohne inneres Leben werden wir oberflächlich, unruhig, ängstlich – wie schlecht ist die Angst für uns! Darum müssen wir uns dem Gebet zuwenden; ohne inneres Leben fliehen wir vor der Wirklichkeit und fliehen auch vor uns selbst, sind Männer und Frauen, die immer auf der Flucht sind. Schließlich ist das Gebet Jesu der Ort, wo man wahrnimmt, dass alles von Gott kommt und zu ihm zurückkehrt. Manchmal glauben wir Menschen, dass wir die Herrscher über alles seien. Trotzdem verlieren wir im Gegensatz dazu jede Wertschätzung für uns selbst, gehen hierhin und dorthin.

Das Gebet hilft uns, wieder die richtige Dimension zu finden, in der Beziehung zu Gott, unserem Vater, und zur ganzen Schöpfung. Und das Gebet Jesu endlich bedeutet, sich den Händen des Vaters zu überlassen, wie Jesus im Ölgarten, in jener Angst: „Vater, wenn es möglich ist…, aber dein Wille geschehe.“ Die Hingabe in die Hände des Vaters. Es ist schön, wenn wir unruhig sind, etwas besorgt, und der Heilige Geist uns von innen heraus verwandelt und uns zu dieser Hingabe in die Hände des Vaters bringt: „Vater, dein Wille geschehe.“

Gehalten am 4. November 2020.

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